Die Enden der Welt
zurück und betrachte die Wände zwischen den Plakaten. Die Wachsoldaten mustern noch immer die ratlos aus dem Gebäude taumelnden Ankömmlinge.
Eine kalkweiße Satanistin mit Wollstrumpfhose zum Minirock wird von einem Beamten beiseitegeführt. Sie blickt geschmeichelt. Auf ihrem Oberschenkel haftet ein Knopf mit der Zahl 23 . Wo er angesteckt wurde, beginnt die Treppe der Laufmasche, die sich bald zielstrebig nach innen wendet. Vom Absatz ihres linken Schuhs im Stich gelassen, stürzt sie, eine monströse Erscheinung aus schwarz-weißen Stoffen und Puder, auf den Asphalt. Als der Beamte sie am Arm aufrichten will, tut sie behindert und spreizt dazu theatralisch die Beine, offen für jeden Blick. Sie will es so. Offenbar ist ihre Scham nicht kostbar.
Stunden später bin ich schon auf den Straßen des Zentrums. Wo ist das Zentrum?, hatte ich gefragt, und der Taxifahrer hatte mit einer Bewegung geantwortet, als wolle er mich verspotten: Hier rauf, hier runter, kilometerweit bis zum Horizont, alles Zentrum. Jetzt stehe ich also mitten darin. Ein Mann mit Neurodermitis im Gesicht blättert an einem Drehständer Plakatreproduktionen aus der Sowjetzeit durch und stöhnt dazu wie beim Sex.
Nimm Amman, Kabul, Bombay, dies sind Städte bei Hochflut. Nimm Minsk, es ist eine Stadt bei Ebbe. Nur die Überlebenden kommen raus und machen gleich die Gesichter von Davongekommenen. Sie blinzeln ins Licht.
Ja, ich genieße die Möglichkeit, in einer Stadt zu sein und sie nicht zu finden. Die Straßen sind so breit, als wollten sie sich ergießen. An ihrer Mündung muss die Ansiedlung liegen, das in der Dünung der Hochbauten wogende Stadtmeer. Die Fassaden sind glatt und durchlässig. Irgendwo dahinter, in ihren Höfen, muss sich das urbane Leben entfalten. Der Park ist fast unbelebt, ein paar schwerfällig Redende sitzen unter den Bäumen. Zwischen den Stämmen stehen die Uniformierten wie Spanner oder Exhibitionisten. Als kolossale Denkmäler einer feudalen Zeit behaupten sich die Paläste. Sie machen die Menschen überflüssig, und diese bewegen sich, als fühlten sie sich auch so.
Nur eine kleine »Unbekannte aus der Seine« trägt ein haarfeines Lächeln im Gesicht. Doch ist sie so betrunken, dass ihr Gesicht nicht anders kann als lächeln. In der Hand trägt sie einen erschöpften Strauß schwarzer Tulpen. An ihrer Seite lächelt ein Mann und bläst in ein gelbes Windrad. Offenbar hat er das Mann-sein-Müssen hinter sich, zumindest bei ihr. Das sieht man an seinen, das sieht man an ihren Blicken.
Es sind auch Mädchen auf der Straße, Mädchen, die besonders aufrecht gehen, weil sie erst seit zwei Wochen Brüste haben. Sie balancieren unter den grobmaschigen Wollpullovern die Errungenschaften einer Weiblichkeit, auf die sich ihr Gesicht schon länger vorbereitet hat. Ein paar Monate weiter, und sie beherrschen bereits diesen in den Distanzpunkt versenkten Star-Blick, sind sie es doch bis dahin schon gewohnt, angesehen zu werden. Am liebsten würde man sie betrachten. Man blickt hin und ist selbst wie nicht vorhanden. Das ist die unreife Kälte der Mädchen.
»Das Schönste«, hat Vassili gesagt, mit dem ich ein paar Tage lang durch die Gegend ziehen werde, »das Schönste sind die weißrussischen Frauen.«
Aber meine trugen mehlfarbene Strümpfe, und ihre Züge waren hart wie die von Transvestiten. Ich habe sie gesehen an der großen Straße und im Park vor der Linguistischen Fakultät. Manchmal prunkten ihre Fesseln umschnürt und ihre Sandalen golden. Dann waren die Beine darüber lang und die Röcke kurz. Sie haben schließlich, als ich im Park so unscheinbar saß, wie ich konnte, alle um mich herumgestanden und geraucht, alle diese Kunstblonden und Kunstroten, die in Leoparden-Imitat Gekleideten, die aus irgendeinem Grund neben ihrem Leben Stehenden und Wartenden.
Lange hat es hier keinen so heißen Sommer gegeben. Die Bankbeamten tragen ihr Hemd aus der Hose hängend, im Kielwasser der vorbeigehenden Nonnen müffelt es unfrisch. Zu heiß ist es für jede Berührung. Wer jetzt noch Hand in Hand geht, liebt wirklich. Auf dem Markt spannt man Sonnenschirme auf, selbst über den Lilien im Bottich, und trotzdem lassen sie schon ab mittags die Köpfe hängen. Ein Roma-Vater spielt mit seinem Sohn »Petite Fleur« für Akkordeon und Klarinette, dreimal hintereinander, dann geht ihnen der Atem aus, und ich kämpfe ein wenig mit einer Rührseligkeit, weil ich an Sidney Bechet denke, wie er damals »Petite Fleur« spielte
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