Die Enden der Welt
Wald wieder strecken, den Feldern Platz machen, und gleich ist nichts so erstaunlich wie die Unscheinbarkeit der Natur in der Idylle.
Der Ort, auf den wir zugereist sind, das sind am Ende sechs mal sechs Meter eines niedrigen, alt-orange gestrichenen Geländers mit abgeblätterter Farbe, vor ihm der mit Natursteinplatten geflieste Balkon. Geländer werden errichtet, damit sich die Ausflügler in ihren buntgemusterten Kleidern nicht in die Tiefe stürzen, Handtasche und Fernglas voran. Die Tiefe löst im Sommerfrischler wohl, gerade nachdem er lange aufgestiegen ist, eine solche Sehnsucht aus, dass er von seinem eigenen Grab mit Pfosten und Latten förmlich zurückgehalten werden muss, ja, sein ganzes Verhalten in der Höhe hat offenbar weniger mit der Landschaft als mit diesen dunklen Verlockungen zu tun, dem einzig Dunklen in manchem Ausflüglerleben.
Deshalb lässt sich der Reisende in solch luftiger Höhe gern am Geländer fotografieren, nicht nur im Augenblick einer imperatorischen Hoheit über den landschaftlichen Prospekt, sondern auch in der Pose der Selbstbeherrschung. Gern legt er wie im spielerischen Umgang mit der Tiefe nur eine Hand auf die Brüstung. Das gibt der Pose zugleich eine selbstbewusste Lässigkeit, die das Erhabene des Augenblicks sublimiert. Der Mensch am Geländer wird Denkmal, sein Horizont öffnet sich endlich in die Weite.
»God’s Window« ist ein Balkon über einer rasant abfallenden Schlucht, etwa tausend Meter tief, geformt aus glänzenden Felswänden, von Flechten und Ranken bewachsen, vom fallenden Quellwasser bespült, von zirpenden Grillen und schreienden Vögeln beschallt. Eine Schlucht, deren Flanken aufeinander zustreben, als wolle sich ein felsiger Vorhang schließen über dem Blick in die Tiefe, über die Wälder und Ströme, über den Weitblick nach Mosambik.
Die Laubbäume tragen ihre Kronen wie Dolden und wiegen sich im Minzeduft. In der Felswand balancieren schiefe, langstielige Bäume, umschwirrt von Schwalben. Immer neue Felsnasen, bedeckt mit Kletterpflanzen, staffeln sich in die Weite. Lilien prunken in Weiß und Orange. Die Zweige weisen, sie gestikulieren in die Landschaft, in der sich, von hier oben aus, kaum eine Spur menschlicher Anwesenheit findet. Der Wind scheitelt den Wald. Man könnte denken, man stehe vor dem Hintereingang in den Garten Eden oder sonst einer unzugänglichen Landschaft, in der noch alles ist wie ehedem, vor dem Anbruch der Zeit.
Der Wald ist kein bloßer Bodendecker, sondern lebendig und für Überraschungen gut. Die saftstrotzende Vegetation schickt jetzt ein Aroma von Curry und Jasmin in die Luft, dann von Aas und nassem Stein. Was uns da unten noch als Berg erschien, ist nun ein Buckel, geformt wie der Handrücken auf einem Knauf, und als die Adern des Waldes verlaufen sich Ströme und Rinnsale und verniedlichen sich, je weiter fort sie laufen. Ja, hier spielt das Drama einer Landschaft, der der Mensch bloß zugestoßen ist.
Der Abenddunst kommt in Schwaden ins Tal. Dann frischt der Wind auf unter dem Geschnatter schreiender Vogelschwärme, die durch das Rostrot eines späten Sonnenstrahls tauchen, aufleuchten und über den mäandernden Seen schon verschwunden sind. Die Landschaft, sich selbst überlassen mit ihrer Achsel-Behaarung, mit ihren Furchen, Warzen, Schründen, Narben, verschorft und zugewuchert, verschwindet langsam im Dunkel.
Doch jetzt der Auftritt von Fuji dot com, groß, rot-grün, klimatisiert und mit grollendem Motor, nach dem Zischen der Türen seine Fracht ins Freie gießend: die Frauen wie Spottdrosseln, die Männer ihre Kameras beschwörend, rasierte Nacken, offene Münder.
Mit dem Rücken dazu sitze ich auf einem Felsvorsprung, tausend Meter über dem Wald, über der Schlucht, in der die Wasserläufe zusammenkommen, das Felsgestein sich schichtet. Riesige Farne drängen sich in den Sprühregen der Katarakte. In der Abenddämmerung wirken die Felsensäulen gegenüber wie gezeichnete, tief gekerbte Körper. Das Wasser schwärmt zu Tal und pinselt in leichten Schwaden vor der Felsenschwelle auf und ab, während sich das Rufen der Fledermäuse gegen das Rauschen und Zwitschern des Wasserfalls durchsetzt.
Die Nacht nistet in den Hohlräumen der Spalten, wo die Finsternis schon komplett ist, in die soeben die ersten Tiere treten. Gelb und rot beflaumt liegen die gestaffelten Felskuppen vor ihrem steinernen Amphitheater, alle wie Boviste nebeneinander. Wolken hängen in der Arena, Schattenspiele zittern auf den
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