Die Enden der Welt
Wänden, schwefelgelbe Flechten klammern sich an. Alle hier Verweilenden, die Bewohner und die Betrachter, tragen diese Landschaft wie einen Poncho. Alle fühlen sich eingehüllt, auch vom Magnetismus der Tiefe. Ja, da wirkt eine eigene Gravitation des Abgrunds, die ergreifend ist, und ein Ziel hat: »The Void.« Die Leere.
»Nur für Busse«, schreit eine Reiseleiterin, man weiß nicht warum, beantwortet vom kurzen Morsen der Rabenvögel. Da liegt ein Wald, der noch Geheimnis sein darf, da breitet sich die nicht unterworfene Natur aus, und da hinten brütet Mosambik.
»O my Lord, this is awesome!«
Die Ersten treten auf die Plattform.
»O man, o Lord, o wow, isn’t this beautiful?«
Ein Pykniker atmet nur noch, das muss reichen. Die anderen stehen und wollen die Landschaft benennen: Wie heißt der Berg, wie heißt der Fluss … Dann folgt als eine Art Gospel chorisches Anschwellen:
»O shit, isn’t this beautiful?«
»O look at this, for Christ’s sake, this is fuckin beautiful!«
Sie fotografieren es nieder mit dem Brillenbügel im Mund. Dann lassen sie sich selbst fotografieren vor Gottes Fenster:
»Beautiful background!«
Rauchschwaden durchziehen die Abendluft.
»Gott verbrennt Weihrauch«, lässt sich eine Schweizerin hören und lauscht der Poesie ihrer Metapher nach. »Aber warum heißt das hier Gottes Witwe?«
Winzige, schamhafte Siedlungen liegen im Tal. Sie haben ihre Hüttchen aneinander geschart, als wüssten sie: Es gehört sich nicht, hier anwesend zu ein. Ausgewaschenes Licht stockt in den Schonungen. Manche Stämme stehen nackt im Hang oder beugen sich über den Abgrund. Die Vögel steigen nicht bis in diese Höhe, aber sie steigen, und wir blicken von oben auf ihr Deckgefieder, das sich vollendet spannt … Sehen ist Einatmen, und während es sich so anfühlt, tritt die Reiseleiterin mit der Orgelstimme an die Rampe, dreht sich zur Gruppe und intoniert im Fortissimo der Inbrunst:
»Now! Let’s have a silent conversation with God here!«
Da deponiere ich den ausgewaschenen Pass aus dem Ozean unter einem Stein und überlasse Gott seinen Gesprächspartnern.
Minsk
Der Fremde im Bett
Der Flughafen von Minsk sieht aus, als sei er aus einem Haufen von Dunstabzugshauben zusammengeschweißt. Vor seinen Toren protzt die Monumentalarchitektur Weißrusslands, und wie im alten Sowjetreich gibt es noch immer diese imaginären Geländer. Man muss geleitet, geführt, Befehle müssen erwartet und befolgt werden, Verbote müssen sich aufrichten. Und zwischen all dem entsteht dann die Entgrenzung, das Schwärmerische, der subversive Gedanke. Ausbrechen müsste man, schreien, freveln.
Stattdessen senken sich die Köpfe zu den grünen und roten Linien auf dem Boden, den vorgeschriebenen Gehwegen, auf die hintereinander treten: eine Blondierte mit Dutt, eine Angejahrte mit Reptiliengesicht, eine Büro-Ulknudel im Ringerleibchen. Sie trauen sich nicht einmal, ihr Pfauenrad zu schlagen. Ihr Gehorsam ist provozierend. Kaum gehen sie vorüber, in sich gekehrt wie Frömmlerinnen, ziehen die Wachsoldaten Schmollmünder. Stattdessen nähert sich ihnen ein Fremder, und das mit der Frage:
»Hätten Sie eine Toilette für mich?«
Doch die Formulierung prallt erst an der Uniform, dann an der Mimik des Soldaten ab. Immerhin zwitschern weiter Geräusche aus den Walkie-Talkies.
Draußen wartet man. Das muss so sein. Man wartet in Rotten auf Busse, Fahrer, Ehefrauen. Manche sind noch in der Situation des Wartens fröhlich. Das sind die Glücklichen. Sie wollen sagen: Solange wir leben, werden wir dankbar sein für alles, was auch lebt. Doch gerade die Alten fühlen die Reise, die beschwerdevolle Reise, tiefer, sie warten behäbiger, selbstgenügsamer, sie zittern in ihre Erschöpfung hinein. Die Geschäftsreisenden dagegen sind immer schon eine Etappe über die Gegenwart hinaus. Eines dieser weißrussischen Kraftpakete hat begonnen, auf mich einzureden:
»Haben Sie Ihre Paris Hilton gesehen auf dem Plakat?«
Wir wenden uns beide nach der Frau auf der Werbefläche, die sich an den Dosen-Prosecco räkelt. Von hier aus gesehen, gehört sie also zu meiner Welt.
»Aufregende Frau«, sagt der Geschäftsmann anerkennend, als hätte ich sie gezeugt. Ich suche das Aufregende in dem von allen Geistern verlassenen Gesicht.
»Und wissen Sie, was das Aufregende an ihr ist?«
»Der Prosecco?«
»Ihr Phlegma.«
Sein Begehren ist also von der raffinierteren Art. Ich ziehe mich trotzdem lieber auf mein eigenes Phlegma
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