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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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in meinem Kinderzimmer, als ich die Hoffnung hegte, auch einmal etwas so Elegantes, Mondänes im Leben zu haben wie das, wovon seine Klarinette sprach.
    Die Fliegen schliefen auf dem Salat der Touristen ein, zwei Frauen zogen ihre BH s durch das Armloch der Bluse, und die Tauben schafften es nicht mehr auf den Kopf des Denkmals, sondern lungerten bloß um den Sockel herum. Jetzt kam ein Trompeter und presste unter größter Anstrengung »Il Silenzio« hervor, aber die Passanten winkten ab:
    »Lass das bloß bleiben! Es nervt!«
    Er ging weiter, versuchte es da.
    »Hier auch nicht. Du nervst!«
    Das einzige »Willkommen« stand auf dem Teppich im Aufzug.
    Sonntagnachmittag. Die Stadt ist voller Bräute. In ihren Gesichtern sieht man, dass die Hochzeitsnacht eine Strapaze sein wird. Auch für den Bräutigam. Dauernd bekreuzigen sich die Leute. Erst wenn man ihrer Blickachse folgt, stellt man fest, dass da eine Kirche, ein Tabernakel ist. Der alte Schachspieler sitzt schon morgens um sieben im Park, packt sein Brett aus und spielt erst einmal ein paar Partien gegen sich selbst. Dann geht er von Bank zu Bank und fragt, ob jemand gegen ihn spielen möchte. Meist kehrt er erfolglos zurück und besiegt sich noch einmal selbst.
    Ich sehe zu, wie zwei Frauen und ein Mann über eine Kamera gebeugt das Foto diskutieren, das sie machen wollen. Ich gehe hin und sage:
    »Geben Sie her, ich mache Ihnen das Foto, dann geht keiner verloren.«
    Sanfte Proteste. Ich sage:
    »Nichts da, hinterher freuen Sie sich, ich mache Ihnen erst mal ein Quer-, dann ein Hochformat. Zur Sicherheit.«
    Auf dem Foto stehen sie verlegen und unverbunden nebeneinander. Anschließend erklären mir die drei behutsam, dass sie zu zweit sind. Die andere Frau ist bloß die Passantin, die sie angehalten haben, damit sie von ihnen ein Foto mache. Noch am selben Abend spiele ich ihr auf meinem Laptop »Petite Fleur« vor.
    »Nicht schlecht«, sagt Elzbieta. »Aber haben Sie auch ›Maiglöckchen‹ von Utjossow?«
    Am nächsten Mittag setze ich mich auf dem Domplatz unter die Touristen: Einige betrachten, andere beobachten, dritte examinieren, vierte forschen, fünfte reisen als Sachverständige, wieder andere als Ausgesetzte.
    »Ich möchte nicht hier sein«, sagt der ratlose Mann an meiner Seite.
    Ich denke, ich möchte auch weit weg reisen, in ein Land, wo Aspirin »Aspjelena« heißt, an den Souvenirläden »Erinnerung« steht und die Frauen tiefe Bauchnäbel haben, von denen eine Spur schwarzen Flaums abwärts weist. Dann fällt mir ein, ich
bin
weit weg, ich bin in diesem Land, und suche immer noch die Wirklichkeit dieser Stadt.
    Minsk liegt an einem Fluss, einem Verkehrsfluss, der achtspurig die Stadt teilt, über sechzehn Kilometer. Von Zeit zu Zeit muss man in die Seitenstraßen abbiegen, um dem Lärm zu entkommen, aber man entkommt ihm nicht. Dort empfangen einen in den Parkanlagen auch gleich die Erschöpften, alte Frauen in Jogginghosen, mittelalte, die vor aller Augen abstumpfen. Entweder sehen sie weichgezeichnet und puffig aus wie Boris Jelzin, oder graphisch konzentriert wie Marika Kilius.
    Die Stadt wurde im Krieg von deutschen Bomben in Schutt und Asche gelegt. Man entschied, sie vierzig Kilometer entfernt neu aufzubauen, lagen doch zu viele Minen und Fliegerbomben unter dem Schutt. Eine Abstimmung unter der Bevölkerung aber ergab: Alles soll genau so, genau hier wiedererrichtet werden, und so machte man sich 1958 daran, die ganze Innenstadt in ihrem historischen Stil wiederzuerrichten. Sozialistische Arbeiter bauten die imperiale Repräsentationsarchitektur des späten 18 . und fortschreitenden 19 . Jahrhunderts wieder auf. Sie gaben ihr Akkuratesse, sie hielten sich penibel an die Vorlagen, aber der Geist entwich ihnen unter den Händen. Das ist das Aufrichtige: Den sozialistischen Arbeitern gelang es nicht, glaubwürdig imperial und hochherrschaftlich zu bauen. Sie schufen Potemkin’sche Dörfer, Attrappen.
    Die historischen Gebäude liegen entfernt voneinander, aufgestellt wie auf einem Monopoly-Brett. Sie wahren Sicherheitsabstände, sie belauern sich. Nur die Kirchen sind schwarz vor Menschen. Unter dem hohen Gewölbe des Mittelschiffs wabert die Menge der Gläubigen wie ein Teig, der noch arbeitet, murmelnd und grummelnd. Selbst draußen vor dem Portal stehen Einzelne, die sich die Übertragung anhören, wie sie so blechern verstärkt auf den Vorplatz scheppert.
    Alles ist reinlich in dieser Stadt, also fortschrittlich, die Siedlungen

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