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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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geschälten Rote-Beete-Kugeln, die Fischchen, den Bückling.
    Die Bedienung hantiert abgewandt am Boden der rückwärtigen Seite, ungerührt, zehn Minuten lang. Ihr Leibchen hat sich aus dem Rocksaum gelöst und gibt eine breite Beckenpartie frei, in die das Delta der Aderverläufe ein Muster gezeichnet hat. Als sie sich erhebt, ist ihr Gesicht rot und vierschrötig, und ein dramatischer Nasen-Herpes sitzt ihr im Gesicht wie Borke. Sie hat jetzt die Sojamilch-Quader fertig aufgeschichtet und zeigt mit dem Kinn auf mich, ihren einzigen Kunden. Ich erwerbe zwei fette Gewürzgurken in Butterbrotpapier und trolle mich, weil sie mich ansieht, als sei es das Beste, was ich tun könne.
    Im ersten Stock sind die Glastüren mattiert und geschlossen. Im zweiten Stock sind sie mattiert, aber wenigstens eine öffnet sich zu einem Flur, in dem allein ein Alter mit Infusionsgalgen ruckend ein paar Schritte tut. Die zweite Krankenzimmertür finde ich angelehnt. Das vordere Bett, auf das ich blicke, ist zerwühlt, aber leer, im hinteren Bett ragt ein einsames blasses Profil aus den Kissen. Ich ziehe mir einen Stuhl heran, lege die Gurken auf die Bettkante und sehe in das Gesicht des Alten, Schlafenden. Jetzt bin ich angekommen.
    Der Atem des Mannes klingt dünnflüssig. Wie durch einen Strohhalm eingesogen, wird er allmählich vom schmalen Brustkorb verschluckt. Dann schnarcht er sich kaum hörbar seinen weiteren Weg und steht. Man kann die Uhr hören. Dann seufzt er sich auf einer langen Bahn wieder ins Freie, als müsse sich der Atmende von jedem Atemzug einzeln verabschieden.
    Der Flanell-Schlafanzug des Greises ist ein oft getragenes, zerwaschenes, blau-graues Gewebe, so durchscheinend wie der Mann selbst. Fleckig ist es, trotzdem rein, sind doch schon viele Waschgänge über die Verschmutzungen gegangen und haben sie gebleicht. Der verschossene Stoff zeigt den edlen Verfall von Rocquefort. Betagt im Design, atmet er die Erinnerung an etwas, das man ehemals wohl »todchic« nannte. Dieser Pyjama, das ist der Hund, der an der Seite seines Herrchens alt und muffelig geworden ist, und doch, er ist ein Trost.
    Eine Hand des Greises liegt auf der Decke, braun und rau, rissig und hart von all der Arbeit, sie ruht wie die Hand, die nie gestreichelt hat, ruht wie ein Stück Acker. Vielleicht hatte sich der hinfällige Mann so an die Erde gewöhnt, dass er nicht von ihr lassen konnte, und auch sie schien sich so an ihn gewöhnt zu haben, dass sie ihn jetzt nur mühsam ziehen ließ.
    Ich betrachtete sein Gesicht lange: die schütteren Augenbrauen, die Altersflecken, die auf der bleichen Haut selbst verblichen waren, die Pigmentstörungen auf den Lippen, die runzeligen Malvenblätter der Lider, die Bitterkeit der Falten, die sich um den Mund fanden, die flachen Warzen, Intarsien seiner Augenringe.
    Wo mögen seine Leute sein? Wer bei seiner Geburt erwartungsvoll herumgestanden und in seine Zukunft geschwärmt hatte, ist vermutlich längst tot, und die vielen neuen Menschen, die erst später in sein Leben getreten sind, sie waren heute vielleicht einfach verhindert, im Kino, oder sie hatten ihn vergessen. Vielleicht war er aber auch ein Mann ohne besondere Anziehungskraft gewesen, ohne den Ehrgeiz und die Gabe, Menschen an sich zu binden. Ja, vielleicht hing er am Leben in seiner menschenleeren Form. Woran sonst?
    Ich wüsste gerne, wie das Leben in ihn gekommen war, wie es sich in ihm ausbreitete, wann er es mit beiden Händen packte, um es zu schütteln. Ich wüsste gerne, wann er auf dem Höhepunkt seiner Lebensfreude war, wann und auf welche Weise sie sich von ihm zurückzog und wann er begonnen hatte, sein Leben zu verlieren. Das schönste Lächeln war für ihn vielleicht das vorbeifliegende, und die rührendste Musik »Maiglöckchen« von Leonid Utjossow. Vielleicht wollte er nie weg und nie sein, was er nicht war. Menschen mit anderen, weniger bäurischen Händen sprächen vom »Kunstwerk des Augenblicks«.
    Und mehr noch: Wenn er Junge und Halbstarker, Mann und Erwachsener, Arbeiter und Bürger, Greis und Siechender, Hinfälliger und Sterbender wurde auf dieser einen plausiblen, in sein Leben eingeschriebenen Bahn, wenn sich eines aus dem anderen so bewusstlos ableitete und ergab – was wollte sein Bewusstsein dann, als es wurde? Das Wahrnehmen überschreiten? Um was zu werden?
    Als ich aufstand, war der Atem des Mannes nur noch wie ein Hauch, der über den Gesichtsflaum eines Babys streift. Ich stand auf, als er innehielt, und

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