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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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wagte nicht zu warten, bis er wieder hörbar würde. In der Tür drehte ich mich um und sah nur das reglose, aus dem Kissen ragende, wie in Holz gesägte Profil mit dem wartend geöffneten Karpfenmund. Es waren die letzten Züge eines verlorenen Lebenskampfes, der jetzt ohne Wucht und ohne Pathos schien. Erst als ich schon wieder auf der großen Straße war, fielen mir die beiden Gurken ein, die ich auf der Kante dieses Sterbebetts vergessen hatte.

Patagonien
    Der verbotene Ort
    Ich reise aus einer Jahreszeit, die kommt, in eine Jahreszeit, die geht. Der Herbst Patagoniens aber hat mehr Mai in sich als unser März. Ich breche auf und denke an die allgemeine Erschöpfung, in die ich hineinreise, an die Gesten des Scheidens, Ablassens, Ermüdens und Kapitulierens in der Natur. Eine Reise führt fast immer irgendwo an die Abbruchränder zum Unvertrauten, dessen Vergangenheit und dessen Fortleben man nicht kennt. Zu Hause tritt man in die Erzählung wieder ein, aber auch sie ruckt und stockt zunächst, war man nur für eine Weile nicht ihr Zeitzeuge.
    Es gibt auf allen Reisen diese Stimmung, in der der Ausstieg dominiert. Noch ist man nirgends angekommen, noch möchte man nirgends ankommen. Fort will man sein, entkernt, gern heimatlos. Der Abschied vom Gewohnten korrespondiert mit den Durchgangs- und Warteräumen, in denen die Fremden schon präsent sind, ihre Erdteile einfließen lassen, sich zu einer Gesellschaft der internationalen Gesichter zusammenschließen und dahinter einfach
    das sind: müde, ungeschminkte, ambitionslos wirkende Gesichter.
    In der Wartehalle des Flughafens von Lima sind sie so: Neben mir ein blondierter Asiate, der sich auf dem Laptop Bilder von Nashörnern ansieht und dazu seufzt. Vor mir fährt um 6  Uhr 45 der eiserne Rollladen zum Schaufenster des Juweliers H. Stern hoch. Dahinter wartet schon ein laufender Fernseher, der eine verjährte Fußballpartie des brasilianischen Titelverteidigers überträgt.
    Diese Stätten dehnen sich aus. Auch die Shopping Malls sind kaum mehr regional identifizierbar, nehmen aber den Rang von Sehenswürdigkeiten ein. Sie reduzieren, was Architektur an ihnen ist, und dehnen ihre Schauflächen aus. Die passenden Menschen dazu sind jene, die auch alles Innere zu einer Auslage machen. Sie stehen in diesen Läden, und ihre Camouflage ist der Protz.
    Nach der Ankunft in Santiago de Chile ist die Fremde erst einmal nichts als eine Straße, ein Grünstreifen, eine Häuserfront. Primeln welken neben dem Container. Ein Pinochet-Double, geadelt von der Noblesse der Grausamkeit, tritt vor das Haus und entsorgt Altpapier. Auf einer Terrasse oberhalb der neuesten Shopping Mall trinke ich zwei Pisco Sour, bin sogleich beschickert, finde alles wunderschön. Im Hotel verschlafe ich den Einbruch des Nachmittags und wache auf unter der Einwirkung eines Duschgels namens »Magellan Breeze«.
    In der Dämmerung finde ich mich dann auf dem Corso von Santiago. Die Fußballmannschaft Colo-Colo hat sich eben gegen den lokalen Favoriten durchgesetzt, jetzt kommen sie alle im Frohsinn auf die Straßen. Die Krüppel ohne Arme und Beine liegen nebeneinander vor ihren Hüten und schnappen mit den Mündern nach der Krempe des Hutes, kaum ist eine Münze hineingefallen. Daneben wartet schon ein Mann, der seinen verwachsenen Beinstumpf in den Verkehr hält wie ein Marzipanbrot. Eine Tanzgruppe führt neue Schritte vor, und in der Luft öffnet die Schönste Arme und Augen und segelt dem Asphalt zu, ohne ihn zu streifen.
    Eine Karaoke-Sängerin in Hot Pants animiert die Gaffer, ein Zauberkünstler hat den verlegenen Jungen mit der Brille vor hundert Schaulustigen gerade zum dritten Mal blamiert, ein Akkordeon-Spieler verfällt in Raserei. Wo sich aber die beiden Hauptadern der Fußgängerzone kreuzen, schreiten ein paar Halbwüchsige auf und ab, in den erhobenen Händen bunte Schilder mit der handgemalten Aufschrift »Abrazzos gratis«, Umarmung umsonst. Aus Angst vor Taschendieben bleibt kaum jemand stehen, und so umarmen sie sich zum Beleg ihrer Harmlosigkeit immer wieder wechselseitig.
    Ich bin schon eine Weile unterwegs, einsam, und werde vor dem glücklichen Bild der Umarmenden gerade einsamer. Außerdem steuere ich geradewegs auf ihre Gruppe zu, und eine korpulente Zwanzigjährige mit bäuerlichem Gesicht steht nun einmal mitten auf meinem Weg. Ich breite die Arme aus, sie tut es mir gleich, und so gehen wir aufeinander zu, auf den letzten Metern lächelnd wie zwei, die nicht zueinander

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