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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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sind entzerrt, die Monumente Solitäre. Überall unterbindet die Stadtplanung Ensemblebildung, nur die Wohnsilos am Stadtrand ballen sich. Auch das Flussufer liegt unbelebt. Es könnte ein umgekipptes Gewässer betten, das nicht mehr fließt. Da treten, während ich immer noch in meiner Ratlosigkeit am Rand der Grünanlage sitze, Bettler an meine Bank mit einem Gesicht voller Verlangen, aber ohne Sprache dafür. Fette Wiesen sprießen um mich herum, mit überdüngten Wildkräutern, Löwenzahn, Sumpfdotterblumen im Saft. Und plötzlich ist es egal, wo ich bin. Hauptsache, ich bleibe eingehüllt in die Fremde.
    Reisende sind Auf-dem-Weg-Seiende. Ihre Bewegung verwandelt Orte in Schauplätze. Sie kommen an, sehen sich um, beobachten Menschen dabei, wie sie in fremden Räumen sich und andere bewegen, und schon dieser Blick verfremdet die Fremde. Alle hier Lebenden sind Geschichte und schleppen ihre Geschichte durch den Raum. Nur der Reisende ist reine Gegenwart, nur er sieht die Stadt in ihrem Jetzt.
    Auf einem Faltblatt in der Nachttischschublade an meinem Bett finde ich die deutsche Übersetzung der Sicherheitsanweisungen, sie lautet: »Wenn das Hotel brennt, legen Sie ein paar nasse Handtücher vor die Tür, öffnen Sie das Fenster und geben Sie der Feuerwehr einen Wink.« Den Rest des Tages irre ich durch die Stadt auf der Suche nach etwas, das wäre wie »ein Wink«.
    Am nächsten Morgen trägt Minsk das Regenwetter wie ein Kleid. Es ist eine Stadt, die so gesehen werden will. Im weißrussischen Fernsehen ist eine Hausfrau im Minirock eben dabei, zu den »Brandenburgischen Konzerten« die Wohnung zu putzen. Sie ist sehr hübsch, und wenn sie mit ihrer Pfanne gestikuliert, tut sie es ironisch, als wisse sie wohl, dass sie zu hübsch ist für eine Hausfrau, aber eben hübsch genug für eine weißrussische Hausfrauen-Darstellerin in einem Hauch von Bach.
    Ich rufe Vassili an. In seinem breiten Wagen cruisen wir durch die Straßen. Er sieht sie mit Bedenken an. In seinen Erzählungen schießen Straßenzüge zusammen als Schauplätze von Kriegen, Krisen, Unfällen, Verhaftungen. Die Stadt, denkt man, ist ein Milieu, das ihn kompromittiert. Was ihn dagegen nicht blamiert, das ist sein Sohn, der hat die Zukunft im Kopf, nicht die Mädchen. Ich frage:
    »Hat er denn keine Zukunft mit Mädchen?«
    »Er ist reif. Er sagt, father, I don’t go out with girls, they have only two things in their head: Pizza and fucking.«
    »Pizza?«
    »Er sagt, die Mädchen sind alle Prostituierte.«
    »Alle?«
    »Er unterscheidet zwei Arten der Prostitution: lazy prostitution und dirty prostitution.«
    »Er braucht keine Freundin?«
    »Er hatte eine. Sie hieß Pralinka. Aber es dauerte bloß ein paar Wochen, da kam er und sagte: ›Papa, ich habe sie durchfühlt. Sie ist leer.‹«
    »Bleibt die Pizza.«
    »Jetzt hält er sich einen Karpfen im Bassin. Ich weiß nicht. Er ist mir lieber als so ein falsches Mädchen. Aber sagen Sie: Was sind das für Menschen, die einen Fisch als Haustier akzeptieren? Gibt er ihnen Wärme? Folgt er? Lässt er sich streicheln? Ich sage Ihnen, was mein bester Freund gesagt hat: Nur Männer ohne Schwanz akzeptieren auch einen Karpfen als Haustier. Hat er gesagt.«
    Auf der abgeschälten Erde im Vorgarten des Gebäudes hinter mir liegen auch ein Stapel Holzlatten und ein paar abgeblätterte Pfosten. Frauen in burgunderroten Kitteln sitzen aufgereiht auf der Stange und kauen. Sie saßen gestern da, sie sitzen noch. Ja, Krankenschwestern sind sie, blasse weißrussische Stationsengel. Ich schlendere durch das Tor des Krankenhauses – auf der Suche wonach? Einem Ort zum Wirklich-Werden, einem Zustand, einer Situation, an der ich mich festkrallen könnte, um hier auch etwas wie eine Situation zu haben und zurückzulassen. Die Kranken lassen mich laufen. Sie haben andere Sorgen. Und die Passanten blicken mich an, als sei ich nicht gemeint.
    Ich behandele das wie eine Mutprobe und trete ins Krankenhaus auf der Suche nach der einen Person, die mich anhalten wird. Aber in der Eingangshalle sitzen nur zwei Greisinnen im Minirock, die rauchen und mich nicht sehen. Also steige ich abwärts. Im Keller gibt es einen gläsernen Verschlag. Man tritt ein und befindet sich in einem neonerleuchteten Kinderkaufmannsladen, in den Regalen Konserven mit altmodisch fotografierten Etiketten. In der Vitrine stehen Gläser mit von Warzen bedeckten Gewürzgurken, die man mit der Holzzange ins Wachspapier wirft, wie die Silberzwiebeln, die

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