Die Enden der Welt
Bettvorleger aus Schafwolle ist bereits fertig. Ein Häftling arbeitet abseits unbeirrt an einer geflochtenen Peitsche. Nachdem ich ihm länger zugeschaut habe, hält er sie überraschend hoch und sagt »Das Symbol der Staatsmacht«, und lacht.
Ihre Produkte dürfen die Insassen auf dem örtlichen Markt verkaufen lassen und die kleinen Erlöse behalten. Es ist frisch im Raum, aber das spüren die Häftlinge offenbar nicht, wissen sie doch obendrein: Nichts, was sie betrifft, darf teuer sein, alles brennt auf kleiner Flamme, und deshalb wird auch erst ab 17 Uhr geheizt.
In einem französischen Kriminalfilm sagt der Gangster: »Es gibt im Leben immer Handelnde und Zuschauer. Das Problem kommt von den Zuschauern.« Für die Häftlinge hat sich diese Rollenverteilung auch im Gefängnis nicht geändert. Sie sind weiterhin die Akteure, die Wachen weiterhin die Zuschauer. So stehen sie da, haben Schlagstöcke und Säbel umgeschnallt, aber tragen wenigstens keine Pistole. Sie trinken mit den Häftlingen Mate, besprechen mit ihnen die Fußballergebnisse, und manchmal fällt ihnen oder sogar dem Kommandanten einer der Gefangenen ins Wort.
Man teilt sich in die Bedingungen, die Kälte, die Enge, die Werkstätten und Gemeinschaftsräume, und das Wachpersonal isst sogar das von den Gefangenen Gekochte. Einmal, erzählt der Kommandant, sind die Häftlinge bei ihm erschienen und baten, auf den schmalen äußeren Fluchtwegen Salat und Tomaten anbauen, Gemüsebeete anlegen zu dürfen.
»Ich werde nichts sehen, habe ich gesagt.«
So jung er ist, weiß er doch die Regeln an den passenden Stellen zu brechen, und so sieht er jetzt wohlwollend auf die Salatköpfe, die er nicht sieht.
Er zeigt uns auch die Krankenstation mit ihren zwei Betten, zeigt uns das Zimmer für den Rechtsanwalt, samt verdecktem Panikknopf an der Wand, zeigt uns das Kabuff für die Sprechstunde, wo er freitags jede Beschwerde der Häftlinge schriftlich aufnimmt:
»So kann ich sie also nicht bescheißen.«
Draußen verständigt sich das Personal über Walkie-Talkies. Die Häftlinge hören mit tristen Gesichtern zu. Die Kommunikationskette unter den Wachen ist auch eine ihrer Ketten.
Als wir wieder auf der Straße stehen, streckt Lili die Hand in den Luftraum vor sich. Sie macht kein Hehl daraus, dass sie zittert, und jetzt sagt sie es fast weinend:
»Es gibt es eben doch, das gute Chile! Jetzt weiß ich es. Ich bin so froh. Mein Sohn wird Polizist. Es war immer so schwer für mich, das zu akzeptieren. Aber ich weiß, es muss nicht so sein, wie ich das Land in Erinnerung habe, es kann anders werden. Schau, dieser junge Kommandant. Er war so freundlich. Er hat es auch schwer. Denk allein an seine frisch vermählte Frau. Sie hat alles aufgegeben, um mit ihm hier zu leben.«
Sie spricht vor sich hin, wie sie läuft: mit festem Blick auf den Gehweg.
»Hast du gesehen: Sie fallen ihm ins Wort. Sie widersprechen ihm sogar. Ein guter Mann ist das.«
Er könnte ihr Sohn sein.
Ahnt der junge Kommandant, dass er eben ein Leben gewendet hat? Ein einziger Besuch, eine einzige Begegnung, und plötzlich verschiebt sich die Perspektive auf ein Land, das in Lilis Mund gerade zum ersten Mal »mein Land« geworden ist.
Ein kleines Rodeo-Theater liegt am Straßenrand, ein Stück weiter sitzt Carancho, der Geier, über einem Stück Aas, und auf dem Zaun wacht der schwarze Adler. Sie haben einen kleinen Hasen geschlagen, ihm erst die Augen ausgepickt, dann die Eingeweide von frisch schillerndem Rot herausgezogen und ausgebreitet. In den Baumwipfeln beraten sich knatternd die anderen Aasfresser. Lili hat immer noch ihr hauchdünnes Lächeln im Gesicht.
»Komm«, sagt sie, und ihr Ton ist wie euphorisiert, »jetzt versuchen wir auch nach Chaitén zu fahren! Vielleicht haben wir ja noch einmal Glück mit den Offiziellen.«
Als der Vulkan im Mai 2008 ausbrach, musste der Küstenort Chaitén, das Tor nach Patagonien, weiträumig evakuiert werden. Es regnete einen halben Meter Asche, das Meer stieg zur Schmutzflut an, riss die Habseligkeiten der Küstenbewohner mit sich, und immer noch raucht der Vulkan so heftig, dass bis heute niemand in seiner Nähe verweilen möchte.
In diesem Hafenort landeten bis dahin die großen Schiffe der Patagonien-Reisenden. Eine kleine Ferienwirtschaft hatte sich entwickelt mit Gästehäusern und Hotels an der Promenade, einer Schule, einem Krankenhaus und Parkanlagen, durch die nachts der Puma streifte. Die wenigen Personen, die heute noch in
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