Die Enden der Welt
legte.
Ungesund der Geruch, der aus den Kanälen steigt, und obligatorisch die Schilder mit dem Wortlaut »Der Staat sieht zu!« – was er nicht tat, denn so mancher ehemalige Bewohner des Orts wurde inzwischen reich an den Entschädigungen.
Es stehen auch die Verkehrsschilder noch, auf denen Frauen Kinder führen und Schulkinder die Straße kreuzen. Leeres Warnen, leeres Bedeuten. Manche Häuser hat die Schmutzwelle nur zur Hälfte mitgerissen, sie stehen als offene Gerippe und geben den Blick frei auf kleine Bücherregale mit zu Boden gegangenen Schmökern. Selbst das Meer hat sich zurückgezogen, in die Zone hinter der Böschung, wo ein einzelnes Haus fast bis an den Saum der Brandung gezogen wurde. Gekippt liegt es da, hinter einem breiten Streifen schwefliger Brühe, der in Pfützen auf dem unreinen Strand ausläuft und in dessen Umfeld auch ein Herd und ein Kühlschrank gestrandet sind. Matratzen lagern auf der Böschung zum Meer, Hausrat liegt verstreut wie nach einer Explosion. Erst am Horizont leuchtet ein schmaler grüner Streifen offener, klarer und ungetrübter See.
Auch die Brücke ist zusammengebrochen. Die hübsche Fassade der »Cabañas Brisa del Mar« mit Blick auf die Promenade lässt an ein beschauliches Badeleben denken, an Tee mit Rahm und Sonnenhüte. Doch so staubbedeckt, wie die Ortschaft drumherum daliegt, scheint der Weg weiter, sie sich wieder instand gesetzt zu denken, als sich umgekehrt vorzustellen, die Natur hole sich all dies komplett zurück.
Die kleinen Restaurants tragen immer noch die Namen ihrer Spezialitäten auf der Fassade, das »Hospedaje Astoria« ist leer, die »Farmacia Austral« gähnt aus der verstaubten Auslage, eine Tafel wirbt für »Turismo Rural«, und die Kirche prunkt mit dem Namen »La Iglesia de Jesuchristo de los Santos de los Ultimos Días«. Hortensienbüsche wuchern unnatürlich fett, und mitten im Vogelzwitschern ist die Stille vollkommen.
Hier entspringt die Straße, die bis zum Ausbruch des Vulkans den nördlichen Eingang nach Patagonien bezeichnete. Ehemals verband sie den Hafen mit dem Landesinneren und wurde deshalb gut befestigt. Heute streifen drei Pferde und ein Fohlen elegant über die leere Uferpromenade, die einzigen Flaneure. Sie bleiben da und dort mal stehen, blicken über das Meer, rupfen sich von Zeit zu Zeit ein paar Büschel giftiggrünen Grases aus dem Wegrain und schlendern weiter. Die Pferde übernehmen auch die Häuser und machen es sich, surreal wie sie sind, in den Wohnzimmern bequem. Noch finden sie überall Futter, und auch die Polizei lässt sie gewähren. Auf manchen der Häuserwände haben Tierschützer Protestinschriften hinterlassen: »Ihr flieht, Eure Hunde und Katzen lasst Ihr zurück. Schande über Euch!« Es gab kein Evakuierungsprogramm für Tiere.
An der Mole stoßen wir schließlich sogar auf zwei Tramper, die sich bis hierher durchgeschlagen haben und auf das große Schiff warten, das sonst immer die Kreuzfahrer bringt. Doch kein Schiff will kommen.
Das Sirren des fernen Meeres unterlegt das Knirschen der eigenen Schritte. Auf einer ergrauten Rasenanlage liegt auch das Krankenhaus mit seinen lindgrünen Baracken und sperrangelweit offen stehenden Türen. Vulkanasche hat auch diese Flure, auch die Betten im Innern, auch die beiden OP -Tische bedeckt, und auf der Wiese im Hof kampieren tatsächlich ein paar israelische Tramper, die Wanderlieder singen, während in diesem Augenblick hoch über ihnen wahrhaftig die Geier kreisen.
Ja, auch Monate nach der Katastrophe sind immer noch Geier über der Stadt. Sie kommen in weit geschwungenen Bögen nieder und fleddern tote Tiere in den Abwässerkanälen oder hacken einem Hund den gedunsenen Bauch auf, der sich ihnen bei einer Latrine entgegenwölbt. Nach und nach lassen sich jetzt selbst ein paar der renitenten Einheimischen blicken. Zwei von ihnen arbeiten mit Schaufeln auf dem Friedhof. Als ein Alter vorbeikommt, der unter einem Tuch auf der Schubkarre etwas transportiert, das wir nicht sehen sollen, nicken sie konspirativ. Ein anderer lässt den immer gleichen Redeschwall fallen:
»Una tortura, una tortura!«
Eine Qual ist es, entwurzelt zu werden, vertrieben, ein Unglück, das eigene Zuhause von der Naturkatastrophe verschluckt zu sehen. Ein Greis, der auf seinen Stock gestützt über der ausgewaschenen Bucht sitzt, meint aber, dass die Natur hier nur eine Rechnung begleiche, weil sich das Treiben des Menschen anders nicht mehr beantworten lasse.
Mitten im
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