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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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der toten Stadt leben, haben sich geweigert, die Heimat zu verlassen, denn sie glauben weder den Behörden noch den Geologen, die einen baldigen größeren Ausbruch und die totale Zerstörung des Ortes voraussagen.
    Die hohen Staubschichten zu beiden Seiten der Straße sind das erste Indiz für die Annäherung an die Katastrophe. In einer Schule, viele Kilometer vor dem Berg, hat sich die Wache eingerichtet. Uniformierte in fluoreszierenden Westen lungern um den Schlagbaum; ihre Kappen sind bestickt mit einem Emblem, auf dem sich zwei Gewehre kreuzen. Am Posten vor der verbotenen Zone sitzen die beiden diensthabenden Polizisten, die die Ausweise sehen und das Motiv für den Besuch wissen wollen. Sie verhandeln. Dass wir von weit her kommen, dass wir nicht fotografieren wollen, dass zwei Einheimische aus dieser Gegend im Wagen sitzen, dass lange niemand kam und Einlass begehrte, etwas von all dem verbessert unsere Aussichten auf den Besuch der toten Stadt.
    Unterdessen betrachten wir unter allen Wolken am Himmel die eine – die nicht fließende, die steigende, lastende Wolke, die sich in die Bank der anderen schiebt und eine andere Quelle hat: im Magma, im Erdinneren. Sie quillt stetig über den schneebedeckten Riegel der Anden-Kette, wie aus sich selbst gespeist, wie ein autonomes, solitäres Geschöpf, das keine Feinde hat und keine Korrektur erfährt und von keinem Wetter gelöscht oder davongetragen wird. Vielleicht ist es der Respekt im Angesicht des Vulkans. Die Beamten jedenfalls winken uns durch mit abgewandten Gesichtern.
    Über die Puente Amarillo dringen wir in die verlassene Zone ein. Vor 45  Jahren stürzte hier ein Flugzeug ab. Es wurde nie geborgen, seit fünfzehn Jahren wohnt ein Hippie in seinem Wrack. Keine Spur von ihm, nur Eukalyptus, Schwefel, unabgeerntete Bäume. Die Verkehrsschilder weisen ins Nichts, die Wäsche baumelt noch auf den Leinen und hat die Farbe des Staubs angenommen.
    Man fährt direkt auf den Höhenzug der Anden, auf die Felswand zu, durch den Grauschleier der Felder. Etwas wie schlechter Atem ist über diese Plantagen gegangen, die lappigen großen Blätter liegen am Boden versengt, Asche bedeckt selbst die Tische der verlassenen Häuser, nur das robuste Wiesengrün hat sich fröhlich erneuert.
    Die Siedlung liegt unter einem pudrigen Schleier, aber einem erstarrten. Die Haufen zusammengeschippter Asche sind gehärtet, die Gebäude aufgegeben. Auch frisch gebaute Häuser altern unter Grau, Äpfel kullern über die Straße. In den Pfützen steht das Wasser gelb, die Schule, die Denkmäler, der Spielplatz haben sich in lauter funktionslose Räume verwandelt, die nichts mehr meinen, nur etwas bedeuten. Am Spielplatz wirkt das Denkmal mit den erfrorenen, in Stein gehauenen Abbildungen des Lebens wie eine Verspottung der Lage: Fischer fischen, Bauern bestellen die Felder. Doch das Pathos der flankierenden Erlöserfiguren, es bleibt hinter dem erhabenen Elend der Szenerie zurück. »Chaitén ne morirá« hat jemand auf dieses Denkmal einer toten Stadt geschrieben, und das Gleiche noch einmal mit dem Finger in den Staub auf den Fensterscheiben der verlassenen Wohnungen.
    Selbst in den Innenräumen steht die Asche manchmal hoch. Sie hat die Tassen auf dem Frühstückstisch bedeckt, die Teller gefüllt. Am Straßenrand parken zum Ausschlachten freigegebene Autos. Ein Mercedes mit einladend geöffneter Haube hat schon ein paar Innereien eingebüßt, und das, obwohl ein Polizeiwagen patrouilliert, um Plünderungen zu verhindern. Zwei Männer wuchten einen Kühlschrank auf die Ladefläche eines Pick-up, doch weit und breit, so scheint es, sind dies die einzigen Menschen hier. Einer nähert sich und klagt über den Vulkan, die Regierung, die Behörden, die Vandalen und Gott, und während er spricht, grollt hinter den Hügeln drohend der Berg. Er ist allgegenwärtig, zugleich unwandelbar, und doch verändert sich auch am Himmel nichts so schnell wie die Rauchsäule über diesem Wundkanal ins Erdinnere.
    Ein Henkelmann kullert leer über die Straße, das alte Geschirr ist auf dem Aspalt zerschellt, Pfotenspuren laufen durch den Staub. Von den Mauern gellen die Graffiti der Nach-Ausbruchszeit, und doch mahnt nebenan das Kriegerdenkmal mit seinen gekreuzten Gewehren: »Siempre viven los por la patria mueren« – eine unermüdliche Huldigung an alle, die für das Vaterland ihr Leben ließen. Doch klingt sie nun entrückt, jetzt, da sich die Vulkanasche auch über die Kriegsgeschichte

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