Die Enden der Welt
morsches Holz, und eine abstruse Puppenstuben-Tankstelle hebt sich mit vier Zapfsäulen im 50 er-Jahre-Design aus den Wildrosenbüschen.
Am Abend brennt im »Hotel Ludwig« der Kamin. Ein imposanter, solider deutscher Holzbau ist das, voller Details, die man aus dem Alpenland kennt. In der Bibliothek stehen deutsche Bücher, Freud, Jung, Kafka, Mozarts Klarinettenkonzert läuft, und der Geist des Exils wird von einer sanften Wehmut gestreift, mit der die Besitzerin aus dieser Fremde heraus an das Glück in deutschen Wiesen denkt. Nur die Küchenhilfe hat ihren Kopf auf die gekreuzten Arme gelegt und sitzt frisch eingeschlafen da.
Am nächsten Tag laufen wir in ein gigantisches Flussbett hinein, ein mit Schwemmholz bedecktes, mit Geröllfeldern ausgelegtes Land. Die Kristalle des vulkanischen Bodens glitzern im Sand, gekipptes, auch totes Buschwerk überall, Strünke, aus deren Herz Bambusstöcke schießen. Die Spuren von Katzen und Rotwild zeichnen den Sand zwischen den runzeligen, wie pockennarbigen Steinen.
Ein paar Autostunden später, und wir sehen in der Ferne erstmals wieder die befestigte Straße, biegen um eine Kurve, und die Landschaft liegt da wie eine Frau, die die Bettdecke zurückschlägt. Trügerisch aber die verheißene Schönheit, gilt doch der Ort als ein heimgesuchter, denn an der Brücke, die sich hier wölbt, soll regelmäßig eine Tote im Brautkleid erscheinen.
Die Kapelle hat man in die moosbedeckte Grotte der Brücke hineingehauen, Laternen in die nackte rückwärtige Wand gestellt, Fürbitten daneben abgelegt, samt den Fotos verunglückter Autos und Schnappschüssen von lächelnden Gatten, die aus ihrem Lächeln heraus der Tod an sich gerissen hatte. Die Tränen des Stearins sind über alles geflossen, auch über ein Paar rosa Babysöckchen, ein Plastikschwert, einen Schnuller. Der Geruch von Schafen liegt in der Luft, weil nachts hier die Tiere ihre Zuflucht suchen und finden.
»Danke, dass Du mich beschützt«, schreibt eine Filzschreiberschrift die Madonna an. »Ich muss wissen, wo meine Frau ist«, fleht eine andere. »Ich verzeihe ihr. Hilf mir, sie zu finden. Ich wünsche, dass Du uns ein gemeinsames Leben schenkst.« »Ich bin seit Tagen wie verloren. Seit Tagen möchte ich dieselbe sein, die ich war, fröhlich, glücklich und vieles mehr.« Die Schreiberin hat ihren Worten Kunstblumen mitgegeben, die aus der Klarsichtfolie grüßen. Selbst über die Grenzen zum benachbarten Argentinien hinweg, weiß Manuel, kommen die Fürbittenden angereist, um der »Madonna der Kaskade« Wünsche zu unterbreiten, sie zu beschenken und anzubeten. Eine Schrift sagt: »Jungfrau, ich kenne Dich nicht, aber ich habe gehört, dass Du gut bist. Pass bitte auf meinen Sohn auf, der wegreisen muss.«
Zu allem Überfluss aber ist die finstere Grotte noch umwölkt von dieser jüngsten, immer noch rätselhaften, unaufgeklärten Geschichte: Innerhalb eines einzigen Monats hat man elf Jugendliche tot unter der Brücke gefunden, einen nach dem anderen. Alle elf waren gutaussehend, alle elf angeblich verwickelt in Drogen- und Sexgeschichten, alle elf sollen Hand an sich gelegt haben, und mehrere Bürgermeister waren angeblich auch verwickelt in diesen Fall. Und das alles gleich unter den Augen der Jungfrau der Kaskade!
Die Bürgermeister haben die Selbstmorde der Jugendlichen auf Depressionen zurückgeführt, wie sie nicht ungewöhnlich seien infolge des schlechten Wetters. Aber wer würde ihnen glauben? Wer würde das Rätsel lösen wollen, und wer hier fände nicht letztlich die Intrige um so vieles ergiebiger und poetischer?
»Ich habe dir doch gesagt«, wiederholt Lili, »in Patagonien nehmen die Geschichten gern einen dramatischen Verlauf.«
Diese Dramen sind Schläfer. Kaum ist eine beliebige Situation da, könnte sich Spannung aufbauen und zum Ausbruch kommen. Wo alles umgeben von Einsamkeit geschieht, da sind die Ereignisse entrückt, aber einzigartig. Man sieht sie aus der Ferne, die Gerüchte tragen sie auf und davon, und im Handumdrehen haben sie sich in der Geschichte des wüsten Landstrichs niedergeschlagen.
Wir reisen über die Bruchlinien dieser Geschichten, bewegt auch von den seismischen Stößen aus dem Innenleben der Vergangenheit. Nicht weit von der finsteren Wallfahrtsbrücke stoßen wir auf den letzten wahren Supermarkt am Ende der Welt, einen, durch den die Gauchos stiefeln und wirklich alles finden: Zielfernrohre, Waffen, Alkohol, Kinderdreiräder, Windeln, Pillen, Düngemittel,
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