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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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verrottetes Obst, amerikanisches Müsli, schwitzenden Käse, frische Creme-Hörnchen. Die Frauen hier stehen wie überwältigt zwischen den Regalen. Sie haben ovale Gesichter und kein Kinn, sie besitzen die muskulösen Schultern von Ringerinnen und einen klaren, geradlinigen Gesichtsausdruck.
    Hinter dem Haus riecht auch die Toilette am Ende der Welt nach Endzeit.
    »Und auf der Papprolle«, berichte ich Lili, »lag nur noch ein einziges Blatt Klopapier.«
    »Ein bisschen dick aufgetragen für ein Ende der Welt, oder?«
    »Stimmt. In Wirklichkeit lag auf der Papprolle kein einziges Blatt.«
    Das ist Cochrane, ein befestigter Flecken, auf dessen Straßen die aus der Wildnis Kommenden herumstreifen wie Irrläufer, unbehauste Existenzen, Pferde führend. Rings um ein beigefarbenes, lagerartig gebautes Haus läuft eine Mauer mit aufgesetztem Stacheldraht – das Orts-, nein, das Provinzgefängnis. Kann man erkennen, wie man die Straftäter hier, wo es nicht weitergeht, ihren Freiheitsentzug erfahren lässt?
    Die Wache am Tor behandelt uns als unerwartete Aufgabe, doch bereit, an uns zu wachsen, und so verspricht der Mann gravitätisch, für Lili und mich ein Wort bei seinem Vorgesetzten einzulegen. Wir warten. Wir werden erhört.
    Der bullige Kommandant in seiner steifen, wattierten, Körpermasse suggerierenden Uniform ist erst 24  Jahre alt, trägt aber schon einen Stern auf der Schulterklappe. Das frische Hochzeitsfoto von ihm und seiner Frau thront auf dem Schreibtisch wie er selbst im Sessel. Die Gattin auf dem Foto lächelt blond. Auf der Wand hinter dem Schreibtisch aber wacht in einem größeren Rahmen die Polizeichefin. Streng und schmallippig sieht sie aus dem Foto hinunter auf das Hochzeitsbild. Es stehen auch Pokale in der Vitrine, errungen beim Fliegenfischen und im Hallenfußball. Wir führen eine Unterhaltung, an der das Erstaunlichste ist, dass sie Unterhaltung sein darf, eine Wechselrede mit kleinen eingelassenen Genrebildern aus dem heimischen, dem familiären, dem beruflichen Leben. Drei Menschen intonieren Variationen über das Thema: Ich bin doch auch nur ein Mensch.
    Der Kommandant führt uns durch die Schleuse, zuerst zu den Zellen für die Vertrauenshäftlinge mit drei Betten, einem laufenden Fernseher, einem Frotteetuch mit aufgedrucktem Pin-up. Im Flur nebenan liegt die Straf- und Dunkelzelle, in der einzig ein Bett steht. Maximal zehn Tage lang darf ein Häftling hier eines groben Verstoßes wegen festgehalten werden, und nur eine Stunde Hofgang ist ihm dann täglich erlaubt. Der Häftling der Nachbarzelle lehnt halbnackt im Fenster, hört zu und ruft dann:
    »Und wenn Frauen kommen, wird eine Zelle frei gemacht.«
    Der winzige Hof ist kaum mehr als ein Übergang zwischen den Trakten. Ein einfältig vor sich hin sehender Gefangener reißt eine Eisenstange mit zwei in Blecheimern gegossenen Zementblöcken an den Enden vom Boden zur Brust, vom Boden zur Brust. Alle Bodybuildergeräte im Hof sind solche Readymades aus Blechbüchsen, Eisenstangen und Betonfüllungen.
    Die meisten der dreizehn Insassen sitzen wegen Vergewaltigung, schwerer Körperverletzung, Sachbeschädigung, Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses, wenigstens Vergehen ohne Todesfolge. Sie machen böse, stumpfe, stillgelegte oder enttäuschte Gesichter, ja, manchmal ist ihr Gesicht krimineller als das Delikt, das man ihnen zu Lasten legt, oder sie wirken, als hätten sie sich die passende Physiognomie erst nach ihrer Inhaftierung zugelegt. Der kleine Ganove will Al Capone sein. Achtzehn Angestellte sind da, ihn zu bewachen und zu betreuen.
    Auch eine Schreinerei unterhalten die Häftlinge. Hier erledigen sie Reparaturarbeiten für die örtlichen Anwohner, bessern Stühle aus, verleimen Schränke. Im Moment aber ist es ein Schaukelpferd, das im Zentrum der kleinen Werkstattarena aufgebockt wurde, und das, intakt, von hier seinen Weg in ein Kinderzimmer finden wird. Es wirkt ähnlich poetisch wie die andere Produktion des Augenblicks, Täfelchen, in die ein Gedicht eingeritzt wurde. Lachend zeigt man mir den Verbrecher, der wegen schwerer Körperverletzung sitzt und nun einfache Sinnsprüche mit unbeholfen empfindsam aufgetragenen Farben und Metaphern oder moralischen Maximen graviert, gegen die er selbst verstieß.
    Nebenan liegt die Werkstatt, in der Fell verarbeitet wird. Ein Stück gegerbtes Ziegenleder verwandelt sich gerade in einen Polsterbezug, Zaumzeug und Trense erhalten die letzten Verzierungen, der

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