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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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politisch bedeutsames, aufgeklärtes, von Gelehrten bevölkertes Zentrum. Im frühen 12 . Jahrhundert gegründet, gab die Stadt, Sitz von Schriftgelehrten und Philosophen, der Islamisierung des Kontinents wesentliche Impulse. Sie war Handelsstation, denn über den Niger wurde das Gold des Kontinents herbeigeschafft, sie war zugleich Verkehrsknotenpunkt: Auch heute noch führen von hier die Karawanenstraßen zu den Oasen nach Norden und neuerdings auch die Fluchtwege der Migranten auf dem Weg nach Europa.
    Anna befreit sich aus ihrem blau-rot gebatikten afrikanischen Kleid und legt sich nur im Slip auf das harte Bett mit dem steifen Überwurf. Auf ihrem Bauch, ihren Beinen, auf Schultern und Armen, überall glitzern Schweißperlen. Sie rührt sich nicht, auf der Haut arbeitet es dennoch.
    Ich inspiziere den Nachttisch, in dem sich eine Kolonie Ameisen organisiert hat, trete auf den Balkon und blicke auf den müden Pool. Zwei Gestalten bewegen sich darin, eine Frau in einem schwarzen Badeanzug und ein kleines Mädchen, das an ihrer Hand durch die unklare Brühe watet. Dann legt sich die Mutter auf den Rücken, beobachtet die eigenen planschenden Fußspitzen. Ihr Grätschen und Treten, Stampfen und Zittern erinnert am ehesten an eine phlegmatisch-erotische Choreographie. Müde stelle ich mir den Mann vor, der sie ergreifen und lieben würde. Anna döst, in diesen Temperaturen scheint auch die Liebe entrückt.
    Timbuktu ist Sand, vor allem Sand, alles sinkt in Sand, ist aus Sand gemacht oder nimmt seine Farbe, selbst seinen Geruch an. Der Sand strahlt die Hitze ab, der Sand holt sich die Stadt, zu Sand soll sie werden. Das einzige, dem Verfall offenbar entzogene Objekt ist auf einer Fassade die bronzene Tafel mit der Aufschrift: »Hier lebte der Afrikaforscher Heinrich Barth. Dieses Haus besuchte im Jahre 1956 Präsident Heinrich Lübke.«
    Dies wird bleiben.
    Nachdenklich flanieren Glaubensmänner durch die Gassen, Muthala im Mund, das Kaustöckchen, das sich mit seinen antibakteriellen pflanzlichen Inhaltsstoffen in der Dentalhygiene bewährt. In einem Hinterhof sehen wir zu, wie Steinbrocken zerschlagen werden. Das so gewonnene Mehl mischt man als Nahrungszusatz ins Essen für Schwangere. Pissende Männer stehen breitbeinig über dem Fluss oder in den Hängen. Die Bananen verwandeln sich auf dem Rost in etwas, das nach Kastanien schmeckt. Das Kino ist bloß eine unterkühlte Garage mit ein paar Holzbänken und einem U-matic-Projektor. Als die lächerlich animierte Trick-Schlange auf der Leinwand erscheint, springt die Frau vor mir schreiend über zwei Bänke nach hinten.
    Der glatzköpfige, goldbehangene, kurzbehoste, schwule französische Hotelier spricht mit über der Brust verschränkten Armen auf seinen einfältigen Zimmerjungen ein, einen Knaben mit begriffsstutzigem, früh gealtertem Gesicht. Der Chef befiehlt, dass die Läden ab zehn Uhr vor die Hotelzimmerfenster geschlagen werden müssen, damit die Hitze nicht eindringe, und ein neues Moskitonetz soll unverzüglich besorgt und gespannt werden. Der Knabe bleibt bockig. Mit seinen Befehlen kommt der Chef schon mal gar nicht weiter. Als Nächstes soll der Junge eine Besorgung machen. Der Patron bittet also und windet sich wie ein Klageweib vor seinem Bediensteten, der ihn jetzt unverhohlen verächtlich ansieht. Da greift sich der Chef, wo er das Bewusstsein des Knaben schon nicht erreichen kann, dessen Nacken und zwingt ihn in eine leichte Beugung. Der Junge sieht von unten böse auf, tut, als schmerze der Griff und fiept wie eine Ratte im Müll. Schließlich bietet der Chef ihm für den Weg sein Fahrrad an, es sei besser »als das des Ministers«. Der bedienstete Knabe lacht ihn höhnisch aus. Beide lassen ab.
    Ein paar Goldhändler kommen ins Hotel, Würdenträger in Schlappen, asketisch und gut gekleidet, sehr ernst. Sie verschwinden hinter einer Zimmertür. Die Klimaanlage übertönt das sonore Stimmengewirr der Verhandlungen.
    Alle Nachrichten zirkulieren hier schnell. Abends schlendern Männer in den Hof, um uns Geschäfte anzubieten, weil sie gehört haben, dass wir uns nach einem Gegenstand, einer Entfernung, einem Hotel, einem Verkehrsmittel erkundigt haben. So sitzen sie nacheinander an unserem Tisch: der Verkäufer von silbernen Kreuzen unterschiedlicher Stämme (er hat gehört, dass ich für Anna eine Kette kaufte); ein Junge mit Musikkassetten, dem ich am Tag zuvor zwei abkaufte, und der nun seinen Fundus aufgestockt hat; ein Abweichler des lokalen

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