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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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mich ein anderer Junge zu seiner Piroge ruft, mit der ich zur Sandbank in der Mitte des Stroms übersetze, und schon nähern sich die Siedler:
    »Wo sind die Medikamente?«
    Als ich meine leeren Hände zeige, dramatisieren sie heftiger:
    »Mein Kopf tut weh«, die Hand geht hin, »mein Magen schmerzt«, die Hand verkrampft sich dort.
    »Hast du Jod mitgebracht? Mich juckt es überall.«
    Als Tuareg verlassen sie ihre Insel nicht, gehen nie auf die andere Flussseite. Aus dem Strom hört man trotzdem das Schreien von Kindern.
    »Keine Sorge, das sind die, die zum ersten Mal hinüber schwimmen, sie haben noch Angst.«
    Eine korpulente Frau mit einem geringfügig schräg eingesetzten Glasauge fixiert mich angestrengt. Es entsteht ein Irrsinn im Gesicht, ähnlich, wie wenn die Krankheit den Körper zum Objekt eines großen Phlegmas macht, ein eigenes Design wählt, Ornamente anbringt, Funktionen stilllegt, einen Ausdruck wegnimmt, einen anderen vergrößert. So blickt sie mich an, unstet, doch starr.
    Ich entkomme ihren Spinnenfingern und erreiche das Ende einer Landzunge. Ein Mann stellt sich mir in den Weg:
    »Hier auf der Spitze, ein paar Meter weiter nur, ziehen wir Salat. Wenn Sie ihn sich ansehen möchten … Dafür mache ich Ihnen einen besonderen Preis.«
    Wo der Markt fehlt, wird alles Markt, auch die Betrachtung von Grünzeug. Ich sage ihm, dass ich Salat schon einmal gesehen habe. Er tut erst erstaunt, dann wendet er sich mit Hochmut ab.
    Die Kinder spielen am Wasser, die Frauen sitzen auf den Schwellen ihrer Hütten und verlesen Gemüse, die Männer thronen erhöht auf Dächern oder Mauern. Im Abfall häufen sich Lebensgeschichten. Da ist ein Kind, das mit einer Aluminiumkrücke in einem Muschelhaufen stochert, während darüber, mit ihren abgetretenen, ausgefransten Flügelenden, die Geier kreisen. Die jungen Mädchen dagegen haben sich zur Toilette auf die Felsbrocken in der Lagune zurückgezogen, wo die Füße gewaschen, die Zöpfe geflochten werden, während die Jungen sich an einem Fußballspiel mit zwei Bällen versuchen. Alle Gerüche schweben über einer Basisnote von Fischabfall und Exkrementen. Unter dem Lamentieren der großen Vögel in den Bäumen stieren glatzköpfige Kinder in die Szene, mit dem Gesichtsausdruck der Alten, während ein Schatten aus Indigo den Hain streift.
    In der Palmenkrone über uns baut ein Vogel nun schon sein viertes Nest in einer Reihe. Er braucht einen Tag, und am Ende der Woche könnte im ersten Nest schon ein Vogelherz schlagen. Als die Dämmerung einbricht, kredenzt uns der malinesische Kellner in der beschlagenen, bauchigen Amphore senegalesischen Wein, schwer wie Aprikosenblut, goldgelb, doch streng wie Harz, und Anna schaut mich an, als öffne sich eben ihr Scheitelchakra dem Wüstenhimmel.
    Am andern Tag entlässt uns die Straße in die Sahelzone. Die Sahara liegt da als eine Erdkörperzone, geschwungen, errötend und erbleichend. Sie hebt sich und sie streckt sich, manchmal schickt sie einen Schauer von Büschen über die Ebene, und am Wegrand in den toten Bäumen lamentieren schillernd blaue und gelbschwarze Vögel. Streifenhörnchen und Geckos begegnen einander an den Stämmen, Geier hüpfen durch die blankgefressenen Gerippe kollabierter Ziegen. Manchmal hängt ein Fetzen Gewebe im Schnabel der Vögel. Immerhin leben sie leichter als die Ziegen und Langohrkühe, die im Schatten der Affenbrotbäume hecheln, und gleich nebenan recken Bäume ihre Kronen wie geballte Fäuste in den Sonnenbrand, während man an den Straßen die graubraunen Fleischhälften frisch geschlachteter Tiere vorbeiträgt.
    Der Himmel, die Wüste, die staubige Luft, sie nehmen alle die gleiche Farbe an, ein in das Beige geriebenes Grau mit rötlichen, gelblichen, milchigen Tönen, und aus dieser großen Monochromie tritt das schreiende Bunt der Gewänder, das tiefsatte Indigo der Kaftane hervor, als sei die Natur nichts anderes als das Kontrastmittel zum Menschen, das Medium, in dem er erscheint. Irgendwann wird man nur noch Sand und Dunst sehen, und über den gemauerten Fundamenten, den Lehmziegeln darüber, über dem Bast der Hüttendächer wird ein Himmel liegen, der alle Farben in sich saugt. Dann werden sich die Hütten verlaufen, und wenn nur noch Wüste ist, wird plötzlich ein einzelnes Kind erscheinen, das, eine Silhouette bloß, durch den Sandsturm kommt und von ihm verschluckt wird als ein Phantom.
    So Mohammed, der kleine Tuareg-Junge mit den abgeklärten Augen des Veteranen, ein

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