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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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vielleicht Zehnjähriger, den man auch Indigo nennt und der in der Wand des aufgewirbelten Wüstensands verschwindet. So auch der Alte, der ein paar Baguettes, in ein Tuch gewickelt, mit sich trägt, mit der beschwichtigend erhobenen Hand in unseren Wagen steigt und einen starken Geruch von Pflanzenfarben verströmt. Dann lässt er sich irgendwo absetzen. Oder die junge Frau, für die wir anhalten, die aber nicht einsteigen will, weil sie unser befremdlicher Akzent im Französischen misstrauisch macht; sie sieht uns an, als seien wir Sklavenjäger. Oder das kleine Mädchen mit dem federleichten Händedruck und dem Korb voller warmer Speisen, das irgendwo zwischen den Dünen verschwindet, wo nichts ist. Oder jene Männer, die wir am Straßengraben auflesen. Ihre soziale Klasse verrät sich zuerst in den Flipflops: Die guten sind handbemalt, mit Punzierungen oder Applikationen versehen, sogar geflochten, die der Armen sind geklebt und ausgefranst, sie sind Teil des Körpers geworden und wie aus Hornhaut gemacht.
    Jenseits der Orte dehnen sich Areale voller Müll, dann die Autowracks wie Schädel, und darüber strahlt auf hohen Stelzen das einzige Plakat: Zwei Marlboro-Jungen auf Pferden in ihrer Wüste, einer anderen Wüste, weit weg. Aber die ihre ist blasser und disziplinierter und weniger theatralisch. Trotzdem: Kann man an einer Straße in der Wüste mit dem Bild einer Wüste werben? Wie schauen die hier Lebenden auf dieses Bild? Es ist nicht Ferne, nicht Reinheit, was es ausatmet, es ist kein Theaterprospekt, sondern ihre Realität. Was soll da noch wünschbar sein?
    Auf die Sockel der Gräber des großen Friedhofs hat man die emaillierten Fotos der Verblichenen genagelt. Uralte Wilde mit geschlechtslosen Zügen starren aus dem Mattglanz, Gesichter, aus denen die Arbeit oder das Alter jede sexuelle Disposition herausgewaschen haben. Darunter steht »Vierter König« oder »Untergebene des Sowieso-Königs«. Durchwurzelte, verknorpelte Gesichter, von Narben wie durchgestrichen, und damit in Stammeskriegen kein Zweifel aufkomme, haben sie ihre Tätowierungen wie das Muster einer Flagge über das Gesicht gelegt.
    Die Kinder fassen mich bei der Hand und ziehen mich auf einen Fleck, wo sie mit der Zwille eine Ratte erledigt haben. Sie blutet am Kopf, wirkt aber sonst reinlich und appetitlich, reinlicher jedenfalls als das Rinnsal, in dem sie niedergestreckt wurde, ja, sie sieht aus, als sei sie in ihrem Pelz ausgegangen und erhebe sich über ihr Milieu. Die Kinder agieren erbarmungslos und setzen mit ihren Schleudern noch einmal an, um die zähe Ratte zu einem allerletzten Aufbäumen zu reanimieren. Der Junge Indigo ist auch unter ihnen, aber er schüttelt den Kopf mit jener Missbilligung, die er bei mir vermutet.
    Eine Schweizerin prustet im Schatten der Moschee ihren persönlichen Tuareg an:
    »Wünschen Sie einen Orangenminze-Ricola-Bonbon?«
    »Nein, danke«, sagt er und reibt sich den Bauch, Schmerzen vorwegnehmend.
    Sie verharrt wie eine Königsmumie und fotografiert pikiert das Plakat mit dem Slogan: »Enfants du Monde. Venez nous voir«.
    Den Wegrand garnieren die Umrisse der Schlangen und Echsen und Geckos, die plattgefahren wurden. Zu Wasserzeichen im Sand sind sie ausgetrocknet, die Körper der Reptilien. Auch eine Ziege liegt da, mit einem Hals so lang, als müsse sich der Kopf vom Tier wegrecken, um sich in Sicherheit zu bringen. Jetzt bin ich schon heimischer.
    Aus dem Sand der Wüste kehren wir zurück in die Farbe der Wüste: die Luft brandig, die Mauern sonnverbrannt und gehärtet, bepudert mit Wüstensand. Die Menschen hier sind sauber, wie der Sand sauber ist. Kein Unrat, nirgends. An den Verfall gewöhnt, leben alle damit, ihre Hinterlassenschaften dem Wind zu überantworten, der alles in die Sahara trägt. Das gesellschaftliche Leben aber ballt sich um die Institutionen Markt, Moschee, Polizeistation, Schule, Universität.
    Alles ist aus Sand gebaut, aus Geschichte, aus Widerstand gegen die ferne Regierung, alles existiert zur Verkörperung eines großen Namens: Timbuktu, Heimat der Indigo-Männer, der Tuareg. Doch auch Vermummte, Bewaffnete, Krüppel, Bettler, fliegende Händler, Priester, alle, die hier leben, tun es, weil sie hier noch überleben können, und das nicht zuletzt, weil sie einen Zugang gefunden haben zum Reisenden. Der kennt Polizisten-, Beamten-, Bediensteten-Gesichter, findet aber alles, was im Zusammenhang mit den Tuareg steht, plötzlich edel.
    Rätselhafter Nomade. Für eine

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