Die Enden der Welt
wird er verscheucht, dann bewegt er sich kreiselnd an die Peripherie seiner Gruppe und treibt erst langsam zu mir zurück. Wenn man ihn anspricht, stammelt er etwas auf Französisch. Sein Charme ist leise, aber unwiderstehlich. Er weiß nicht von sich, nicht von seiner Grazie, die noch betont wird, wenn er lachend den Wildwuchs seiner Zähne entblößt. Doch im nächsten Augenblick sitzt er da wie der antike Dorn-Auszieher mit den zerschundenen Beinen, dem Handgelenk mit der offenen, kaum angeheilten Lochwunde, mal in sich selbst versunken, mal ein Verhältnis suchend wie das des Zöglings zum Mentor, eine Geheimbeziehung, eine diskrete, von Unterwerfung und Achtung getragene Beziehung.
Seine Augen sind immer schon da. Wann immer ich schaue, hat er schon geschaut. Manchmal legt er sein Knabengesicht in die Falten eines Herrn und reibt sich die nackten Fußsohlen im Sitzen. Anders als andere bietet er keine Dienste an, fragt nicht nach unserer Herkunft, umwirbt nicht »Madame« und sucht auch keine Kenntnisse über unser Land, unseren Sport. Nur einmal zuckt er bedauernd die Achseln: Ja, die bettelnden Kinder seien lästig. Aber ohne sie abzuwerten, meint er das, eher mit Verständnis für mich, der sie anstrengend finden könnte.
Es ist unser letzter Tag. Wir haben mit einem Tuareg Tee im Sand vor dem Flughafen getrunken. Seine beiden Kamele sind schon gesattelt.
»Wo ziehen Sie hin?«
»In meine Oase.«
»Wie lange werden Sie unterwegs sein?«
»Drei Wochen.«
»Was finden Sie dort?«
»Meine vier Frauen.«
»Und was machen Sie an den Abenden?«
»Wir erzählen uns Geschichten.«
Vor meinem inneren Auge erscheint der Horror Vacui des deutschen Ehemannes, der seiner Gattin allabendlich Geschichten erzählen müsste.
Wir nehmen zu unserem Abschied seine welke Hand in die unsere und lassen sie, schlaff wie sie ist, für einen Augenblick so liegen. Dann schlendere ich, allein mit Mohammed, dem Jungen Indigo, in einem langen Weg auf das Flugzeug zu. Jetzt hat er einfach seine Hand in meine gelegt, wie die muslimischen Männer es auf den Gassen tun. Wir bewegen uns auf die Propellermaschine zu: das Rudel der tobenden Kinder rund um Anna, der Junge ernst und stumm an meiner Seite. Er schreitet routiniert barfuß über den Sand, dessen Hitze ich durch die Sohlen meiner Schuhe fühle, und lässt meine Hand nicht los. In meiner Linken habe ich einen Schein vorbereitet, einen großen, für ihn sehr großen Schein, die einzige Möglichkeit des Augenblicks, seinem Leben einen Effet zu geben, etwas zu bewirken, das bleibt. Ich gebe ihm die Hand zum Abschied, dann schiebe ich den Schein nach.
Er blickt mir seelenruhig in die Augen mit diesem cremigen Blick, der so ambitionslos kommt, als wolle er nur verweilen. Dann brechen seine Augen für einen Wimpernschlag aus, schnellen hinab auf die Hand, dann noch einmal hoch zu mir: Ob ich weiß, was ich tue? Ob ich mich geirrt haben und gleich alles rückgängig machen könnte?
Er lässt mich fahren, den Schein in der Faust, und läuft – nicht zurück, wo noch die Passagiere mit ihren Begleitern und Angehörigen nachdrängen, sondern voraus, an der Gangway vorbei, unter der Maschine hindurch, über die Landebahn, auf der anderen Seite die Böschung aufwärts und wieder abwärts in den Dünensand, er läuft und läuft, sieht sich keinmal um. Seine Sohlen klöppeln den Wüstensand, helle Wölkchen steigen unter jedem Tritt hoch, seine beiden jüngeren Vasallen sind ihm jetzt auf den Fersen, doch er dreht sich nicht um, er läuft, er läuft, er läuft.
Ich lasse Anna und die anderen Passagiere an mir vorbei die Gangway hochsteigen und blicke ihm weiter nach, bis er zuletzt nur noch ein Partikel in der Landschaft ist, der sich immer langsamer fortbewegt, über die Dünen, in die Senken. Erst als ich dann am Fenster sitze, die Maschine abhebt und Höhe gewinnt, kann ich erkennen, dass er ins Nichts läuft mit keinem Haus, keiner Hütte, keiner Siedlung als Ziel. In dieser ganzen Zone der Sahara ist nichts als diese Bewegung, die Bewegung einer Flucht ohne Fluchtpunkt, die von nichts angetrieben wird, als von der Möglichkeit zu fliehen.
Bombay
Das Orakel
Von den Bäumen hoch über der Kreuzung flogen Papageien auf in einem grünen Schwarm, Äffchen balancierten über die Wäscheleinen auf den Balkons, Transistorradios widersprachen einander, und die beschwerdeführenden Hupen der Motorradtaxis klangen arhythmisch wie ein indonesisches Gamelanorchester. Der Junge, der mit
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