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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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unserem Auto lief, solange dieses Schrittgeschwindigkeit fuhr, palaverte in mehreren Sprachen in den Wagen hinein. Es gab nichts zu bitten, nichts zu fordern, nichts anzubieten. Dieser Großstadtkrieger wünschte nichts, als ein Gespräch aufrechtzuerhalten, zu reden, beantwortet zu werden, Fremde kennenzulernen. Wir hielten, ich stieg aus und setzte mich mit ihm in eine kleine Grünanlage an der Straße. Er hatte tätowierte Ohrläppchen und fragte mich:
    »Wie viel Milch gibt eure Kuh?«
    Ich wusste, so betrachtet, wenig über uns, und so saß der Junge tief hineingebeugt in das wenige, das er hörte und nicht komplett verstand. Wir sahen uns bewegungslos an, zwei Landschaften im Gespräch.
    »Ich bin ein Straßenkind«, sagte er, als sei dies sein Titel.
    »Ja«, sagte ich. Was sonst?, dachte ich.
    »Ich habe Dinge gesehen, die ein Junge in meinem Alter nicht sehen sollte.«
    »Ja«, sagte ich.
    »Sprecht ihr, wenn ihr unter euch seid, deutsches Englisch oder englisches Englisch?«
    Ich erklärte ihm deutsches Deutsch.
    »Was sagt ihr, wenn ihr etwas bewundert?«
    »Wir sagen: Nicht schlecht, Herr Specht.«
    Er wiederholte es und wollte weitere Ausdrücke lernen, bis ich ihm eröffnete, dass ich jetzt in das Haus gegenüber gehen und mit zwei Eunuchen reden würde.
    »Ich kenne auch einen Transsexuellen. Der wurde als Frau geboren und brachte allein durch seine mentale Kraft die eigenen Eierstöcke zum Platzen. Ich warte.«
    »Worauf?«
    »Auf dich.«
    »Woher weißt du, was Eierstöcke sind?«
    Er zeigte auf die Straße und sagte: »Die Akademie des Lebens.«
    Schon als ich diese Straße nur zur Hälfte überquert hatte, füllte sie sich mit dem Geschrei der Huren. Ihre Aufforderungen kamen kurz und fordernd, sie klangen, als wollten sie mich auf etwas aufmerksam machen:
    »Hey! Come here! Hey! Look here!«
    Es klang, als hätte ich etwas fallen gelassen.
    »Sir! Watch out!«
    Ich blickte auf die Steilwand eines großen braunen Oberschenkels, der aus dem Sarong gekippt wurde und auf das Sitzbänkchen schwappte wie ein Kilo Leber.
    »Thank you«, rief ich und versuchte mich an einem Gesichtsausdruck frustrierter Begierde. Die Frau bedeckte ihre nackte Auslage mit theatralischem Schwung, ihr Gesicht nahm Züge verletzten Stolzes an. Sie tat unfreiwillig entblößt und schamhaft. Da stürzte ich in den dunklen Hauseingang hinter ihr.
    Ich steige ein Mietshaus hoch. Innen ist es entkernt durch Flure, Stiegen, Fluchten, Katakomben, ein ganzes Gangsystem öffnet sich, in dem ich mich rasch nicht mehr zurechtfinde. Immer tiefer geht man hinein und kommt nicht weiter, zweigt ab und ist wieder am Ausgangspunkt. Das Licht dringt nur schwach blau durch die Röhrenknochen der Ytong-Blöcke, die die Außenflure vom Hof abgrenzen und die Katakomben blickdicht machen. Von innen schimmert ein Lämpchen, und hinten im Bau schwankt an einer Leine eine farbige Glühbirne, die als das Ewige Licht den Wallfahrern den Weg weist.
    Ich folge einem Mann, der eine Plastiktüte trägt, sie leuchtet mir. Als er sich umdreht, ist er eine Frau und nicht begeistert, verfolgt zu werden. Jetzt taucht sie unter den hängenden Wäschestücken durch, dann tief hinein in einen Seitenflur. Ich folge, gebückt, dann steht plötzlich eine Matrone mit einer Schaufel vor mir, dann ein Mann mit süchtigen Augen, der mich missmutig anstiert. Erst bleibt er in seinem weißen Hemd wie angelehnt an der Wand, dann hebt sich seine Hand doch, aber schlägt nicht zu, nein, sondern weist mir den Weg.
    Ich biege ab in den nächsten Flur. Er führt durch eine gekachelte Sanitärlandschaft, in der nichts mehr sanitär ist: Die Fugen zwischen den Kacheln schimmeln, in den Bruchlinien haben sich Organismen gebildet, die aus dem Stein quellen. Zwei Eunuchen essen an einem seitlichen Tisch eine wässrige Linsensuppe, ein paar Plastikstühle werden verrückt. Eine leere Bettstatt hat ihre Kissen abgeworfen, als ich aber näher komme, ist sie gar nicht leer, sondern eine monströse Nackte streckt mir ihre Füße entgegen, schwarze Haare auf den Zehengliedern. Ein Ventilator, eingelassen in das obere Drittel der Fensterscheibe, arbeitet, aber er verwirbelt die Luft nur, er kühlt sie nicht. Eine Frau wirft ihr dickes Haar von einer Seite auf die andere.
    Ich setze mich zu den Eunuchen mit der Linsensuppe. Einer hat seine Haare in einer Schlammpackung, aber unter der Hitze im Raum und der Feuchtigkeit läuft die Farbe in langen Tränen durch das Gesicht, wie beim sterbenden

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