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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Aschenbach am Strand von Venedig. Der eine der beiden Eunuchen ist ein listiges Frettchen mit dem Teint eines Pastrami-Brötchens und schnellen Augen. Der andere ist eine hellhäutige Diva mit der großzügigen Physiognomie eines Caravaggio-Knaben, einer breit aufsteigenden Stirn und lauter runden Formen, wunderschön, wäre da nicht die Haarpackung, die zähflüssig durch das Gesicht läuft.
    Sein damaliger Freund und er haben sich als Dorfjungen in Südindien eigenhändig kastriert, um in der Großstadt leichter Kundschaft finden zu können. Der Freund starb an der Selbstverstümmelung. Er selbst aber, der Glamouröse, hat ein Auskommen, weil er auf sich halte, nur gute Produkte auftrage, immer Parfüm verwende … Er nähert sich. Ja, alle Düfte des Orients steigen von ihm in die Atmosphäre. Außerdem werde er zu Hochzeiten eingeladen als Glücksbringer, und dann sei ja da noch die Liebe.
    Er meint die große Lieblosigkeit, Prostitution genannt. Aber die Liebe?
    »Ich bin ja nicht mehr zu viel gut«, sagt er. »Aber zum Empfangen bin ich gut.«
    Er lacht, eine angeschmuddelte Lache. Dann spricht er davon, dass in der Liebe gerade das Glück des Gebens wichtiger … Das habe ich schon mal gehört, aber in einem Zusammenhang, in dem der nächste Satzbaustein von der Schönheit handelte, die von innen komme. Und während er weiter vom liebenden Geben spricht, gibt die Träne nach, die ihre Kraft schon eine Weile in seinem inneren Augenwinkel sammelte, und bebt, mit Mascara geschwängert, die große blasse Wange hinab. Die Königin lässt sie laufen, auch wenn eine schmutzige Fahrrinne zurückbleibt.
    Beim Hinaustreten auf den Flur verschwinden die Schatten zu beiden Seiten. Ich taste mich weiter durch den lichtarmen Korridor, einem Schimmer, irgendeinem Schimmer entgegen. Blauer Verputz bröckelt oder schwebt in Schuppen zu Boden. Die Wand sieht nun aus wie eine Karte des Meeresbodens mit Kontinenten aus Mörtel, Beton, freigelegten Stein- und Kachelresten. Im Weitertasten öffnet sich die Wand unter meinen Fingerspitzen mit Aussparungen und präsentiert Götterbilder, schlangenarmige, kalbsköpfige Wesen, erleuchtet und energetisch geladen.
    Eine abgetretene Treppe öffnet sich wie auf einem verblauten Foto, kaum identifizierbar, ein paar Stufen tief in eine offene Zimmerflucht. Ihre Kammern hängen alle an diesem einen Flur, und in jeder Nische wartet ein Bett. Im Dunkeln sitzen Leute, starrend, als seien sie die Kundschaft, Huren, Kinder, Väter, Verwandte. Einmal führt eine Holzleiter zum Hochbett hinauf, und auch dort oben wartet, in gerafften Tüchern, die Sünde, eine große Sünde, den Tüchern nach zu urteilen, die vor sich hin schlottern, während eine Alte, »die Mutter« genannt, aus dem Nichts, aus dem stotternden Lachen heraus, zu weinen beginnt.
    Der feuchte Geruch in den Zimmern will sagen: Alles lebt. Laken, Fetzen, Wollmäuse, Katzen, Schaben, Tauben, Ratten, auch Kakerlaken lassen sich sehen, und die Gesichter der Menschen dazu sind wie die antiker Sibyllen, dunkel, wie aus einem Schacht der Geschichte aufsteigend, mit verfinsterten Zügen, von einer Last gedrückt, die unsichtbar ist und sich manchmal über den zusammengewachsenen Brauen eingenistet zu haben scheint. Auch ein Kind mit aufgetriebenem Kopf sitzt auf der Bodenmatte, es greift vor sich, mit der ausgestreckten Hand immer vor sich, wo eigentlich nichts ist.
    »Da ist etwas«, bringt die Mutter unter Schluchzen hervor. »Mein Kind sieht etwas, ich bin sicher.«
    Die Verschwendung im Elend: Das ist der Überfluss des Überflüssigen, die Ornamentik der Blumengirlanden und Malas, der Tätowierungen, der schwarz gezeichneten Augen und geschwungenen Damenbärte, des roten Nagellacks, der bemalten Ballons, der karierten Überwürfe, der Düfte, die aus dem dunklen Backenflaum der Frauen steigen, der Blumenkränze, der gerahmten Götter unter Glas. Ja, selbst das Aufbauschen der Gewänder in schwelgerischen Draperien, das Quellen der Haut in Bauchfalten ist wuchernde Opulenz. Ein paar violette Zwiebeln liegen am Boden, der Blick geht darüber hinweg durch den zerschlissenen Fenstervorhang. Wie ineinander gebaute Grillenkäfige sind diese Häuser mit ihren Außenfluren voller Ventilatoren, Kübel, Hausgeräte, Wäschespinnen, Schüsseln, Tücher. Und das Falsettkreischen der Mopedhupen setzt niemals aus.
    Ich weiche zurück, in die Tiefe des Baus. Noch bin ich den Flur nicht zu Ende gegangen, noch kenne ich seine letzten Versprechungen

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