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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Maschine zur Hervorbringung von Sekreten?
    Doch andererseits: Die Liebe des Westens entwickelte sich zu einem eigenen sanitären Bereich. Hier hat plötzlich alles mit Hygiene zu tun, rangiert die Gesundheit über dem Eros. Doch was, wenn die wahre Erleichterung des Sex eben darin bestünde, alle diese Einschränkungen der Vitalität zu überwinden? Für den Moment des Höhepunkts wenigstens. Aids hat die Liebe auch spießiger gemacht.
    Die Mutter geleitet mich zum Ende des Flurs und präsentiert ihre Tochter: Mumtaz, die stämmige Attraktion unter einem stehenden Ventilator. Nachdem sie mich gemustert hat, schaut sie lieber in den Ventilator. Mumtaz ist nicht allein HIV -infiziert, sie ist aidskrank. Das weiß man, das sieht man auch.
    Mit zurückgebundenen Haaren, bleich und ein wenig pausbäckig, mümmelt sie vor sich hin, vielleicht ein Kaugummi, vielleicht die eigene Zunge auslutschend. Dann bleibt der Mund stehen, weil er von keinem Impuls mehr erreicht wird. Mumtaz glotzt. Von der Grundposition des Trotzes aus findet die Mimik als Nächstes in eine Ärgerlichkeit. Mumtaz kratzt sich das Gesicht, das Innere der Ohren, den Haaransatz. Plötzlich redet sie mit hoher Stimme, aber die Mutter wischt ihr Reden weg.
    »Das ist nichts«, sagt sie. »Was sie da sagt, hat gar nichts zu bedeuten.«
    Mumtaz öffnet den Mund zu einem Wald von Zähnen, so durcheinander, dass das Gebiss dem Lachen etwas Wildes gibt. Dann sucht sie einen Punkt des Interesses auf der blauen Decke, die ihren Schoß bedeckt, legt den Kopf auf die Seite, lässt das leere Kauen, zieht die Brauen kurz zusammen und bleibt so, elegisch: Eine Frau, die das Repertoire mimischer Möglichkeiten durchgeht, aber diese schwimmen vor ihrem Gesicht. Dabei beißt sie sich auch auf die Unterlippe, beginnt unversehens zu schluchzen, tut es ein paarmal, so lange, bis sie offenbar vergessen hat, wie es weitergeht. Nein, sie wird nicht weinen, nein, jetzt hat sie den Faden verloren und ist schon wieder woanders.
    Während wir noch interessiert in das Gesicht des Mädchens schauen, nimmt die Mutter das Verkaufsgespräch wieder auf: Menschen, die schon HIV -positiv seien, könnten mit Mumtaz natürlich ungeschützt Verkehr haben. Wenn man mal darüber nachdenke, spräche ja nichts dagegen, und wie schön sei es für diese Bedauernswerten, auch mal wieder die Wonnen der ungeschützten Liebe kennenzulernen. Die anderen sollten sich besser schützen, aber faszinierend – sie verwendet das Wort »spellbinding« – könne es auch sein, mit einer zu schlafen, die, das könne ich ja selbst sehen, geistig verwirrt sei.
    »Verwirrt?«
    Also verwirrt in der Art, dass sie eben manchmal einen Mann ergreife und ihm fürchterlich guttue. Sie sei ausdauernd und lasse sich lange und mit Kraft herannehmen. Ein andermal dagegen könne es passieren, dass sie den Mann wegstoße und ihn partout nicht an sich lassen wolle.
    »Man kann es nicht erklären, aber so ist sie. Faszinierend!«
    Die Mutter blickt angewidert in das Gesicht der eigenen Tochter. Mumtaz schwitzt. Ihre Gesten kommen ansatzlos. Greift sie sich ein Handtuch, so hat sie es vorher nicht einmal fixiert. Reibt sie sich das Gesicht, so wirkt es, als habe sie eben noch nicht gewusst, dass sie eines besitze. Ihre Finger, kurz und fett, wie sie sind, fliegen unablässig auf, setzen sich irgendwo auf dem Körper nieder und machen sich ans Kratzen, Kneten, Kneifen, Reiben. Ungeschminkt ist Mumtaz, bis auf die Kajal-Ablagerungen um die Augen, ein Ölfilm liegt auf der Haut, die Ohrringe sind winzig und vermutlich die einzigen Schmuckstücke, die sie besitzt. Auf beiden Seiten dieses tölpeligen Gesichts mit seinem Unverstand hängen die Ohrringe wie der hämische Einfall eines Menschen, der ausgerechnet diesem Gesicht auch noch einen Akzent verleihen wollte.
    »Schauen Sie«, sagt die Mutter. »Der Mensch ist gut organisiert.« Sie demonstriert es am eigenen Körper. »Hier, das Herz liegt unter dem Kopf, also können die Gefühle nie stärker werden als das Hirn. Nicht wahr, Mumtaz?«
    Die kratzt sich durch die schwarze Bluse den Unterbauch.
    »Am unwichtigsten aber ist der Sex. Er hat die tiefste Position. Selbst das Essen ist wichtiger als das. Nicht, Mumtaz?«
    Die Frage trifft ein, braucht aber lange:
    »Nee«, sagt Mumtaz dann, entblößt ihre Kollektion Zähne, »nee«, und zuckt tatsächlich die Achseln wie ein Mädchen, lächelnd vor Schüchternheit, aber grotesk. Die Mutter nimmt ihr alles weg, das Wort, den Lappen in

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