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Die Endlichkeit des Lichts

Die Endlichkeit des Lichts

Titel: Die Endlichkeit des Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Riedel
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findet.
     
    »Zu
ihrer anderen Frage«, sagte Alakar Macody.
    »Welcher?« sagte Verna tonlos.
    »Der Frage, was ich gelesen habe:
Pünkelchen, und als ich zehn war, hat mir meine Mutter Platon aufgedrängt. Das
Höhlengleichnis, sie fand das altersgemäß, aber mich hat’s einen Dreck
interessiert. Es gab ja keine Jungs, die das gelesen hatten. Jeden
Mittwochabend mußte ich mit ihr darüber diskutieren. Also wendete ich einen
literarischen Trick an und stürzte mich auf die germanische Dichtung. Das hatte
einen gewissen Zauber, und die anderen Jungs stellten sich als leicht
beeindruckbar heraus. Wir Germanen«, sagte er, »lebten ja noch in Höhlen, als
Sokrates längst herabgestiegen war. Also saßen wir in unseren Baumhäusern, und
ich sagte die Merseburger Zaubersprüche auf oder das Wessobrunner Gebet. Ich
hatte Teelichter geklaut, und es war sehr gemütlich.«
    »Aber klar«, sagte Verna. Ich weiß, daß
es nicht schlecht ist. Es kann nicht schlecht sein, weil es wahr ist.
    »Dann natürlich die Minnesänger.
Simplicissimus und den Göttinger Musenalmanach. Bettine von Arnim, Storm, Hans
und Heinz Kirch, was ein böses Omen war. Überhaupt komme ich mehr und mehr zu
dem Schluß, daß die Dichter das Leben nicht nacherzählen, sondern es
vorwegnehmen. In Gullivers Reisen besaß der Mars bereits zwei Monde,
obwohl sie noch gar nicht entdeckt waren. Wobei die jungen Dichter... wenn es
das ist, was uns droht — gähnende Leere... ich weiß nicht, ob man sich darauf
freuen sollte.«
    Er rückte der Unterhaltung zu Leibe wie
einem Angreifer. Die Blätter auf Vernas Schoß waren schwer, mit jedem seiner
Worte wurden sie schwerer und drückten ihre Knie in die Erde. Sag, daß es
schlecht ist, sag es, und du bist ein toter Mann.
    »Andererseits sollte man der Historie
nicht nachtrauern, oder sind Sie der Historie schon irgendwo leibhaftig
begegnet? Ist doch nur ein Gespenst. Thomas Mann hat den Fehler gemacht. Er
wollte sowieso lieber Galsworthy sein und in England leben. Die Buddenbrooks«,
sagte er, »bloß blödsinniger Gesellschaftspop, finden Sie nicht? Er war einfach
nicht dekadent genug. Dabei hat er sich solche Mühe gegeben. Sehen Sie, mit mir
hat ja nie jemand gelesen. Im Grunde habe ich mich gar nicht verlieben wollen,
ich habe jemanden gesucht, der eine Lesegeschichte mit mir hatte. Wenn ich
darüber geredet hätte... Aber so ist von jedem Buch ein Stück in mir hängengeblieben,
und die Bücher sind in mir gewachsen. Als ich fünfzehn war, Grillparzer: Ich
bin sein Alfonso von Spanien gewesen und habe Rahel geliebt, aber meine Rahel
hieß Dorothea und wollte mich nicht. Ihr Vater war Polizist, er machte sich
nichts aus Physikern, dachte, ein Kernreaktor ist eine Art Abfalleimer für
Äpfel. Danach war ich auch mal Arbeiter, Bauern, Soldaten. Gefühlskommunismus hat Becher das genannt, und ich habe mir eingebildet, Alwin und meine Mutter zu
Menschen machen zu können. Und am Schluß wollte ich Gott werden, der Mann ohne
Eigenschaften. Natürlich mußte das schiefgehen, sie hatten mir ja Haltung
eingeflößt, bis die Haltung sich in mir aufgerichtet hatte. Antonio, wo bleibt
deine Haltung, und damit meinten sie nicht, daß ich gerade sitzen sollte.«
    Von Vernas Füßen herauf zog ihr Eis
durch die Beine, den Bauch hoch bis in ihre Brust. Manche wurden
fortgeschickt, flüsterte Anne Sexton, zu tot, um krank zu sein. Es
muß nicht immer jemand sterben, Schätzchen, dachte Verna. Merk dir das.
    »Natürlich, die Gedichte. Sie sind eine
Art... Allheilmittel gewesen, eine Schutzimpfung. Wissen Sie, ich habe Gedichte
eingenommen wie andere Leute Kopfschmerzmittel. Nur gab’s zuwenig Wasser dazu,
und manche blieben mir in der Kehle stecken. Als ich Eliot entdeckte, das war
die Revolution, wie Lermontow für Rußland. Die Leiche, die du vor’ges Jahr
in deinem Garten setztest, schlägt sie schon aus? Wird sie dies Jahr erhlüh'n? Wie als kleiner Junge, an einem dieser brütendheißen Sommertage, wenn ich in
eine Kirche ging. In den Ecken hing noch der Wachsgeruch von den vielen
abgebrannten Kerzen. Ich hatte Eisreste an den Fingern, Kirscheis im
Vanillemantel, und meine Haare — völlig verschwitzt. Aber drinnen war es kühl
und ganz still. Das darf man auch niemandem erzählen.«
    Zögernd blickte er sich in seinem
Wohnzimmer um, dessen niedrige hölzerne Decken auf Vernas Schädel drückten.
Los, mach es. Du sagst, es ist schlecht, und ich sage dir, warum es gut ist.
    »Von Eliot habe ich mich

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