Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Endlichkeit des Lichts

Die Endlichkeit des Lichts

Titel: Die Endlichkeit des Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Riedel
Vom Netzwerk:
nach
Stockschwämmchen, die Uhr tickte über Eliots Porträt. Gerade zwölf, und nur
noch sieben Stunden bis Brainonia.
     
    Sie las über einen Pilz, den größten
Pilz der Welt, er lebte seit 2400 Jahren in den blauen Bergen von Oregon.
    Die Stühle vor ihrem Stammcafé waren
noch zusammengestellt, und der Kellner mit dem Igelschnitt zog unter gewaltigem
Krachen einen Tisch für sie aus dem Stapel. Einen Eisentisch, dem ein Bein
fehlte. Das Leben war Mangel. Selbst Karla hatte nicht über die Izzy-Geschichte
gelacht, obwohl sie sich bemüht hatte, sie fröhlich zu erzählen. Aufgebracht
hüpfte eine Drossel um ihren Brotkorb, aber Verna bedeckte die Krümel mit einer
Serviette. Der Appetit war ihr vergangen, seit sie sich in den Artikel über den
Geisterpilz vertieft hatte. Es war ein dunkler Hallimasch, ein Parasit, und er
ernährte sich von Bäumen.
    Aus den Lautsprechern brach plötzlich
Gitarrenmusik, eine spanische Combo, die sommerliche Stimmung verbreiten
sollte. Das Pflaster war noch feucht vom Regen. Immer wieder öffnete sich der
Himmel unerwartet. Vereinzelt setzten sich Gäste unter die Markise, sie trugen
dünne Kleidungsstücke, an Schultern und Armen von Feuchtigkeit durchtränkt. Ab
und zu hielt der Kellner ein Glas gegen das Licht und warf Verna einen
abschätzenden Blick zu. Niemand, für den sich Aufregung gelohnt hätte. Alles
gesagt. Alles getan. Alles gehört. Alles gedacht. Sie widmete sich wieder ihrem
Artikel.
    Neun Quadratkilometer weit dehnte sich
der alte schwarze Pilz im Boden aus, seine Fläche so groß wie eine Stadt. Die
Fäden, mit denen er sich festbiß, hießen Rhizomorphe und schoben sich wie
Fangarme durch das Erdreich. Zentimeter um Zentimeter, bis das Land knisterte,
Steinchen fielen, Aste brachen und Tiere sich davonmachten. Millimeterweise
wurden Fuchsbauten und Wasserläufe unterhöhlt, und zum Schluß fraß sich der
Pilz in die wehrlosen Wurzeln der Nadelbäume.
    Mit einem Tablett, auf dem Gläser und
Tassen zitterten, lief der Kellner vorbei, während der riesige Hallimasch
jenseits der Ozeane an den Grundfesten der Welt nagte. Alakar Macody würde in
blankes Entzücken ausbrechen, falls sie daran dachte, ihn vor der Show über
diese zweite schwarze Welt auszufragen. Es schien Verna nicht unmöglich, daß er
den Koloß sogar selbst entdeckt hatte, eines windigen Tages auf seinen
Streifzügen rund um Prairie City in Amerika. Inzwischen starben dort die
Tannen, ausgesaugt von den meterlangen Myzelsträngen. Adern verstopften sich,
Wurzelwerk verfaulte, und über dem Friedhof der Bäume schwirrte nur noch toter
Staub in der Luft.
    Beim Umblättern stieß sie gegen den
Tisch, ihr Glas fiel zu Boden und zerbrach. Als der Kellner neues Wasser
brachte, fröstelte sie, obwohl die Sonne hervorkam und vom nassen Gehsteig
abprallte. In der Hitze begannen die Platten zu dampfen. Das Pilz-Ungetüm wog
mehr als vier Wale, und wenn es Flora und Fauna getötet hatte, zogen fremde
Tiere in den verödeten Landstrich ein. Unsichtbare Mikroben oder Wanderratten,
die sich vom gierigen Myzel nicht stören ließen. Auch die Spechte kamen und mit
ihnen das Klopfen und Pochen an toten Stämmen. Verna leerte das Glas und legte
den Kopf zurück. Grelle Sonne schmerzte in ihren Augen. Dem halben Erdball
saugte das prähistorische Ungeheuer mit seinem Hunger die Seele aus, während
die wachsenden Rhizomorphe die dunkle Welt unter der Erdkruste in
blaßgrünlichen Dämmer tauchten. Ein Licht, das durch chemische Umsetzungen
entstand.
    Ein Kind spielte zu nah an der Straße,
das Geflecht bläulicher Äderchen in seinen Kniekehlen eine Landkarte. Paß auf,
wollte Verna rufen, paß auf, was da draußen geschieht. Wer wußte schon, was
sich unter dem Asphalt tat. Wann der Hallimasch Amerika verlassen hatte und zu
ihren Füßen ankam. Ein Geschöpf der Unterwelt, ein gefräßiger Riese. Der
Pilzgott, dachte Verna. Wie bedrohlich, wie gespenstisch das war.
     
    Im ganzen Haus roch es nach
Stockschwämmchensuppe, und das Aroma zog über die Treppe in Alakars
Schlafzimmer, wo er lustlos packte. Sein alter Koffer wollte sich nicht
schließen lassen, deshalb versetzte er ihm einen Tritt.
    Dieser Junge — Antonio, sagte seine
Mutter einmal, als sie ihn einer fremden Therapeutin vorstellte, er zeigt
sadistische Tendenzen! Dabei war nichts Wichtiges vorgefallen, nur einige
wissenschaftliche Versuche mit rotbeinigen Baumwanzen. Sadismus, aha, dachte
Antonio. Obwohl er wußte, was das Wort bedeutete, erschreckte es

Weitere Kostenlose Bücher