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Die Endlichkeit des Lichts

Die Endlichkeit des Lichts

Titel: Die Endlichkeit des Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Riedel
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vermutete Geschmack eines Kusses, der noch nicht geküßt ist.
    Karen Blixens Gesicht veränderte sich
in seiner Erinnerung, Vernas Gesicht, das sich über ihr Gesicht legte.
Teilmengen, Schnittmengen, ein Gedicht, das ein Gedicht bedeckte, und Quiz, das allertraurigste Wort. Verna rauchte Sobranie-Zigaretten und spielte mit der
Schachtel, eingeschlossen in das ganz eigene, afrikanische Licht. Eine Frage,
die nur einen Augenblick etwas ändert, den ungewöhnlichen Augenblick lang, für
den einer lebt. Haben Sie jemals Jenseits von Afrika gesehen, Verna,
würde er fragen. Erinnern Sie sich, wie er ihr die Haare wäscht, bevor sie
miteinander schlafen? Als sie beide es schon wissen und er sagt: Wird es gehen?
Daran habe ich gedacht.
    Vielleicht war Karen Blixen wie Doris
Knöchel gewesen. Wird es gehen? Natürlich wird es gehen, Alakar. Warum denn
nicht, wegen deiner Prothese? Ich liebe Prothesen! Außerdem hab ich das gar
nicht gehört — was hast du dir bloß wieder ausgedacht? Vielleicht hatte Finch
Hatton Karen Blixen deshalb verlassen. Aber er wußte, daß es anders gewesen
war. Ist die Schnittmenge zu groß geworden, Verna, würde er fragen. Universal,
unberechenbar? Nach der einzigen Frage in einem einzigen Augenblick, in dem
Pythagoras versagt?
    »Ich mag eben Mathematik«, sagte Verna,
»darum mag ich dieses Spiel. Die ganze große Welt in einer Kiste!«
    Dann griff Alakars Hand plötzlich nach
ihrer Hand. Ihr Gesicht, das sich öffnete, verschloß. Ja-nein-ja, Syllogismen.
Fünf Fingernägel, mikroskopische Spiegel, und Vernas Hand so heiß, daß sie
seine Hand verbrannte. Kleines Flugzeug, große Sonne, damit man später darüber
weinen kann. Mit dem Daumen streichelte er das Flußdelta auf jedem Finger. Sein
Nagel drückte sich in eins der Fältchen, während Vernas Hand zu einem Stein
wurde und sie seinen Daumen mit starren Augen beobachtete. Während Kavo Verna
beobachtete, wie sie Alakars Daumen beobachtete, Annett Kavo beim Beobachten
beobachtete und Manasse sich halb vom Stuhl erhoben hatte und versuchte, Atem
zu schöpfen. Drüben gähnte Mister Hu, er war ein schmaler Exilchinese.
    Vernas Handfläche, bloß und warm, ein
leeres Blatt, Pleroma, auf das er mit dem Finger Zeichen setzte. All diese
Bilder, die aus meinen Rippen ragen, sagte Finch Hatton zu Karen Blixen. Sehr
blau, sehr schläfrig, eigentlich zu klein. Pleroma. Creatura. Ein Finger
schnitt Muster in eine Hand. Alakar hob den Kopf, Finch Hatton hob den Kopf,
Verna hob den Kopf. Unter seinen Händen das Gefühl ihrer Hand in seiner Hand.
Ich bin Finch Hatton gewesen.
    Still, sagte sie, still, warum ist es
so still hier drinnen?
    So still. Hier drinnen.
    Jemand holte Atem. Manasse, Kavo und
Annett schreckten auf, und die Dümmlinge stießen über der Kasse die viereckigen
Schädel aneinander.
    I Get Knocked Down, sangen Chumbawamba, und Verna riß an
ihrer Hand, als säße ihre Hand in einer Schraubzwinge. Faß mich nicht an.
Finger glitten auseinander, Atemzüge trennten sich, etwas rief, etwas keuchte.
Alakar Macody wischte sich mit einer leeren Hand die Stirn, während Verna immer
noch fassungslos ihre leeren Finger ansah.
    »Was tun Sie da, Alakar«, sagte sie,
»um Himmels willen?«
    Aus einem Glas fielen
Maraschinokirschen mit glänzender Haut. Was ist passiert, sagte Alice hinter
der Tür, wo sie mit Wassersaphiren und Flintsteinen wohnte, Zimmer an Zimmer
mit Izzy. Was ist? Was ist? rief Alice. Nichts, dachte Verna, rein gar nichts,
beruhige dich, dies hier ist nichts für Kinder.
    »Ich habe keine Lust mehr«, sagte
Manasse, »das Spiel ist mir wirklich zu kompliziert. Ich verstehe ja nicht mal
die Regeln!«
    »Ich hatte Sie etwas gefragt, Alakar!«
sagte Verna wütend. »Was haben Sie da gerade gemacht?«
    »Ich habe Ihnen ein Gedicht in die Hand
geschrieben«, sagte Alakar Macody.
    Ich möchte eine Wand sein, dachte
Verna, und hinter der Wand soll ein Spiegel sein, und hinter dem Spiegel soll
es dunkel sein, und hinter dem Dunklen soll eine Ritze sein, und hinter der
Ritze werde ich schlafen, flach wie ein Blatt, farblos, und ich werde
schlüpfen, und geschlüpft werde ich mit Alice über Schmetterlinge reden. Schillerfalter,
Trauermantel, Goldene Acht, die fand sie besonders schön. Ich habe Ihnen ein
Gedicht in die Hand geschrieben, aber nur, weil Sie von Gedichten angefangen
haben. Aber ich mag keine Gedichte, sagte Verna. Leise, damit die Gedichte sie
nicht hörten. Mein Gesicht soll mich nicht hören, das in der Erde liegt.

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