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Die Endlichkeit des Lichts

Die Endlichkeit des Lichts

Titel: Die Endlichkeit des Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Riedel
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ein.
    »Findest du?« fragte Vera, »Na ja,
hübsch ist natürlich relativ. Wenn man sie mit Verna hier vergleicht, ist sie
eher unhübsch. Dieser Busen, der hängt doch ein wenig schief.«
    »Sie hatte eine Brustoperation«, sagte
Verna mit spleißender Stimme.
    »Oh!« sagte Vera, und im Rückspiegel
zitterten ihre Augäpfel, aber sie faßte sich schnell. »Na, das tut mir leid.
Aber man kann nicht alles wissen. Manchmal wundert es mich selbst, wie wenig
man über die Leute weiß. Wie geht’s Ihnen denn nach Brainonia ? So viele
Sendungen, ich meine, das müssen doch Jahre Ihres Lebens gewesen sein!«
    »Fünf«, sagte Verna, starrte nach
draußen, und von der Seite war ihr Gesicht im Licht der Straßenlampen fahl.
Schwarz, weiß, schwarz, eine Maske, die aufleuchtete und erlosch.
    »Fünf Jahre!« rief Vera.
    Äußere dich, sagte Antonio. Alakar
schüttelte den Kopf, dann zerbrach sein Kopf. Er wußte, daß man von ihm
erwartete zu schreien.
    »Fünf Jahre!« wiederholte Vera, als der
Schalthebel knackte wie ein Knochen. Als der Bus über sein Bein gerollt war,
machte es krack, ein Laut, der seinen Körper ausfüllte, weil er den Tod von
etwas bedeutete. Für niemanden sonst, nur für ihn. Zu seinem fünften Geburtstag
hatte er sich ein Fahrrad gewünscht, weil er sich vorstellte, mit dem kleinen
gelben Fahrrad, an dessen Gepäckträger ein Wimpel befestigt war, wie Batman in
die Luft zu fliegen. Ein Haus von oben, eine Mutter von oben, ein Vater von
oben, Kastanien von oben. Trampeln, schrie Alwin, vom Wunsch enthemmt, sein
Sproß möge endlich kein Träumer mehr sein, sondern ein gleichgewichtiger
Beherrscher physikalischer Wirklichkeit. Trampeln — aber mit der kleinen
Prothese ging das nicht. Ein Jahr nach dem Bus hatte das Fahrrad schließlich
doch im Park unter der Eberesche gestanden. Es war Antonios sechster
Geburtstag. Na, das geht wohl noch nicht, hatte Alwin gesagt, zu sich selbst,
nicht zu Batman, und war dann gärtnern gegangen.
    »Fünf Jahre, und dann kündigen!« sagte
Vera. Sie bremste und zog mit einem entschlossenen Ruck den Zündschlüssel. »So,
zu Hause. Aber da wäre ich doch nicht im Traum auf die Idee gekommen, die
schöne Stelle aufzugeben.«
    »Man hat ja auch mir gekündigt«, sagte
Verna Albrecht.
    »Was?« rief Vera und tastete über die
Rücklehne nach seiner Hand. »Ja, wie denn das?«
    »Einfach so«, sagte Verna, »ich habe
nämlich im Studio angefangen zu weinen.« Vernas Kistenhaarschnitt flog, die
Kiste barst, und in der Kiste steckte der Kopf eines Gespenstes, das einmal ein
Kind gewesen war. Vielleicht lag es an dieser Waldorfgeschichte, vielleicht war
es nicht gut, daß sie so lange kindlich sein mußten.
    »Weinen?« sagte Vera wie ein Echo, »na,
das ist natürlich eine andere Sache. Das sollte man tunlichst vermeiden, wenn
man vor der Kamera steht. Worüber haben Sie denn geweint?«
    »Sie waren doch selbst dabei.«
    »Ich? War das etwa in unserer Sendung?
Als Al-kalar gewonnen hat, weil er meine Fragen beantworten mußte?«
    Three Quarks for Muster Marks, sagte
der Kandidat.
    Als Vera ausstieg, stieg auch Verna
aus, alle stiegen aus, nur er nicht. Die Zentralverriegelung klickte, Vera
schloß ab, und erst nachdem Alakar an die Scheibe geklopft hatte, befreite sie
ihn aus dem Wagen.
    »Warum haben Sie denn nun geweint?«
fragte Vera, während sie sich an der Wohnungstür zu schaffen machte.
    »Ich weiß es auch nicht mehr«, sagte
Verna in Veras Flur.
    »Herein, herein, bringt Glück hinein«,
sagte Vera stolz, öffnete die Küchentür und schob Verna vor sich her. Beide
bewegten sich wie Attrappen. Dann ging es nicht mehr weiter, weil Verna die
Vernapuppe entdeckte, die hinterm Küchentisch an der Wand lehnte, in einem
pinkfarbenen Kostüm, dem Kostüm aus ihrer ersten Brainonia- Sendung. Sag
nichts, dachte Alakar, und sie sagte nichts, niemand sagte etwas, obwohl Verna
hätte etwas sagen müssen. Es wäre richtig gewesen, wenn sie ihn beleidigt hätte
wie Doris Knöchel. Richtige Beleidigungen an den richtigen Stellen. Noch besser
aber wäre gewesen, wenn sie gegangen wäre, ein eigenartiges Liliengewächs, eine
Herbstzeitlose, die sich plötzlich schließt. Colchicum autumnale.
    Alufolie bedeckte die silberne Platte,
die Vera in der Küche enthüllte, und Verna ließ sich auf einen der Stühle
fallen, so daß sie der Vernapuppe abgewandt saß, während Vera den Kühlschrank
öffnete. Ihr Gesicht war breit und rot, auch wenn der Ausschlag fast
verschwunden und nach

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