Die Endzeit Chroniken - Nemesis (German Edition)
Eindringlingsalarm vernahm, kletterte sie durch das Loch und fand sich in der Bibliothek wieder, in der ihr von Scarlet die Augenbinde abgenommen worden war. Angel verschloss die Falltür sorgfältig und legte den Teppich darüber.
Hätte sie nicht gewusst, wo sich der Geheimgang befand, hätte sie ihn vermutlich nie gefunden. Daneben stand ein blitzblank poliertes Klavier, zwei bequeme Lesesessel mit einem kleinen Tisch für die Zuhörer, dahinter ein großes Bücherregal und an den Wänden hing allerlei nutzloser Tand. In einem weiteren Regal aus hochwertigem Teakholz staubten sechs handbemalte Porzellantassen samt passenden Etageren ein. Im Gegensatz zu der futuristisch und steril anmutenden Versammlungshalle war dieser Raum eine einzige Reizüberflutung und lenkte die Augen des Betrachters überall hin, nur nicht auf die dunkle Ecke, in der bis eben noch die kitschige Vase gestanden hatte.
Gern wäre Angel der Versuchung erlegen, die Buchtitel genauer zu untersuchen, um etwas über die Vorlieben der Bacchae in Erfahrung zu bringen, doch die Zeit drängte. Die Korridore erwiesen sich als menschenleer, was angesichts der nächtlichen Stunde nicht verwunderte. Verlaufen konnte man sich im Inneren des Tempels auch nicht. Es gab nur zwei Ringe um die große Versammlungshalle, an denen die ursprünglichen Büros der Stadtverwaltung lagen. Am einen Ende trafen sie sich beim Ausgang, an dessen Türen die Prätorianer standen und am anderen führten sie auf den Hinterhof, wo sich laut Scarlet die Wohnquartiere der Bacchae befanden. Auf beiden Seiten gab es einen Eingang zur Halle, doch Angel wollte keinesfalls entdeckt werden und schon gar nicht mitten in die Besprechung platzen. Sie konnte bereits dumpfe Gesprächsfetzen hören, aber kein Wort verstehen. Da fielen ihr zwei Wendeltreppen zum Obergeschoss des Pantheons auf. Nur das einfallende Mondlicht aus den spärlichen Fenstern wies ihr den Weg. Die Taschenlampe hatte sie längst abgeschaltet, um keine Wachen anzulocken.
Zu ihrer Überraschung mündeten die Stufen aus blankem Marmor in einer weiteren Doppeltür zum Versammlungssaal. Angel spähte durch das Schlüsselloch und sah eine Art Theaterloge. Die Sitze waren mit weißen Bettlaken bedeckt worden, so als würde der Raum einer Renovierung unterzogen werden. Nach einem letzten Kontrollblick über ihre Schultern zog sie die Türen auf und erwartete insgeheim, sich mit einem lauten Knarzen der Scharniere zu verraten; doch die erwiesen sich als gut geölt und beinahe lautlos.
Zweiunddreißig bequeme Kinosessel boten eine hervorragende Aussicht auf das Geschehen unter sich, sofern man sich gerade hinsetzte. Transparenz war in vielen Demokratien vor dem Zusammenbruch großgeschrieben worden. Häufig hatten sie die Politiker nur geheuchelt und missbrauchten das Publikum lediglich zur Beruhigung der Bevölkerung, aber es gab auch einige aufrichtige Ausnahmen.
Angel durfte sich natürlich nicht wie ein geladener Gast an der Veranstaltung laben, sondern robbte stattdessen zwischen den Sitzen entlang bis vor zur gläsernen Brüstung, von wo aus sie die Versammlung verfolgen konnte, ohne entdeckt zu werden.
Im Inneren des Marmorsaals saß Jade auf einem Ledersessel neben Yolandas leerem Platz. Azure und Nadra hatten dieselben Positionen wie am Nachmittag eingenommen, wirkten aber beide aufmerksamer und flegelten sich nicht in ihre Stühle. Sydney lehnte mit verschränkten Armen an ihrem Tisch, wie eine Lehrerin, die darauf achtete, dass ihre Schüler nicht voneinander abschrieben.
Alle fünf Prätorianer, die an der Rettungsmission teilgenommen hatten, befanden sich ebenfalls in der Anhörung; mit Ausnahme von Sigma-zwei, der vom Dach in D-Sechs-alpha gestürzt war. Sigma-eins stand in der Mitte des Kuppelbaus und vollendete gerade seinen Bericht. Direkt an seiner Seite lauschte Scarlet stumm seinem Urteil. Sie hatte sich gewaschen, doch Yolandas Blut klebte noch immer an ihrer Kleidung. Zwei zusätzliche Prätorianer bewachten die massive Doppeltür zur Eingangshalle mit den Büsten der Bacchae.
»Herrin Scarlet musste eine Entscheidung treffen: Heather Connely und Martin Rich ihrem Schicksal überlassen und sie als Kriegsverluste hinnehmen, oder unsere Ressourcen bei dem Versuch riskieren, dem Volk wieder Hoffnung zu geben«, sprach der Anführer der Sigma-Lanze mit kräftiger Stimme. Er zeigte keinerlei Schüchternheit, wie Angel sie zuvor von den Sicarii im Angesicht einer Bacchae erlebt hatte. »Wir zweifeln
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