Die Endzeit Chroniken - Nemesis (German Edition)
Offenbar wollte sie in der Nähe der Tür kein Licht riskieren und streifte stattdessen mit der rechten Hand an der Wand entlang. Die Gruft war bei Dunkelheit nicht ungefährlich. Herausstehende Steinplatten ließen Scarlet darüber fluchen, wie sehr ihre Schwestern die Grabpflege vernachlässigt hatten. Ohne ihren Kontrollblick konnte Angel die ganze Zeit einen Fuß direkt vor den anderen setzen und sich so die exakte Schrittfolge einprägen. Damit war es nun für sie ein Leichtes, die richtige Stelle wiederzufinden.
Sie ließ ihre Hände an der Wand entlanggleiten und suchte nach einem Öffnungsmechanismus; einer Türklinke oder einem elektrischen Schalter. In der Dunkelheit hatte sie das Geräusch von aufeinandermalmenden Steinen durch die Gruft schallen gehört. Als sie nach zehn Minuten nicht fündig geworden war und allmählich die Orientierung verlor, holte sie ihre kleine Stabtaschenlampe hervor und riskierte einen Blick damit. Scarlet war es an dieser Stelle ebenfalls leid gewesen, durch die Dunkelheit zu stolpern.
Das Licht erreichte kaum die Wand der anderen Seite, so groß war die unterirdische Grabstätte; und dazu noch vollkommen leer, bis auf einen einzelnen Sarkophag in der Mitte. Angel suchte nach Fenstern, die sie verraten könnten, doch die massive Holztür schien die einzig sichtbare Öffnung zu sein. Fackelhalter ragten aus den Wänden, was auf eine Nutzung für Rituale hinwies.
Nun packte sie die Neugier und sie umrundete den steinernen Sarg. Er bestand aus reinem Granit und war vermutlich mehrere Tonnen schwer. Dank einem Sockel reichte er Angel bis zur Brust und war von einer dicken Staubschicht bedeckt. An seinem Fuß stand eine Gedenktafel mit der Aufschrift:
SOPHIA
CONCORDIA – CONVOCATIO – DICIO
Jiao hatte ihr die Doktrin der Bacchae übersetzt. Es war Latein für Einigkeit, Berufung, Macht. Angel leuchtete noch einmal durch die ansonsten völlig leere Gruft und überlegte, wie weit Heldenverehrung und Personenkult bei den Sicarii gehen würden.
Trotz der interessanten Entdeckung brachte sie Sophias Grab ihrem Ziel keinen Schritt näher und sie wendete sich bereits ab, als ihr Blick auf die dicke Staubschicht der Deckelplatte fiel. Sie wischte mit ihrem Zeigefinger darüber und hinterließ eine deutliche Spur. Sofort lief Angel zurück zu der Stelle, die den geheimen Eingang verstecken musste, und suchte nach Unregelmäßigkeiten im Staubteppich. Scarlet hatte wie sie die Wand als Orientierungshilfe benutzt und ihre Fußabdrücke endeten genau da, wo Angel zuvor mit ihrer Suche gescheitert war. Nun konzentrierte sie sich auf ihre Handabdrücke, die sie zu zwei kleinen, runden Steinen führten, die blitzblank geputzt aussah. Leichter Druck erzeugte keine Reaktion, aber als sie sich dagegenstemmte, ließ sich ein Mauerstück aufschieben und gab den Weg zu einem engen Tunnel frei, in den nicht mal Angel und Cassidy nebeneinandergepasst hätten.
Es gab weder eine Beleuchtung noch irgendwelche Schilder, die ihr den Weg hätten weisen können. Dafür hingen abgestorbene Wurzeln aus der Wand. Angel erinnerte sich an ihr Schaudern, als sie sich blind daran entlangtasten musste. In ihrer Vorstellung waren es ekelerregende Würmer gewesen, zumal der Tunnel nicht mal ansatzweise verkleidet worden war. Er wirkte wie eilig mit Eimern und Schaufeln gegraben; so als wollte man ihn unbedingt geheim halten. Nur die Decke hatten die Erbauer mit Holzbalken stabilisiert.
Nach gefühlten einhundert Metern und zwei Kurven stieß Angel auf das Ende des Gangs. Nichts deutete auf einen versteckten Mechanismus zum Öffnen oder eine Tür hin. Aber Scarlet hatte sie auch nicht durch eine Tür geführt, sondern ihr befohlen, die Arme auszustrecken und sie anschließend hochgezogen. Entsprechend sorgfältig leuchtete Angel die Decke ab und ging ein paar Schritte rückwärts, bis sie eine hölzerne Falltür entdeckte, die sich in den Boden schieben ließ. Bevor sie sich jedoch daran erinnerte, dass Scarlet im Moment des Öffnens schwer zu keuchen und stöhnen begonnen hatte, kam ihr ein flauschiger Teppich zusammen mit einer Keramikvase entgegen, die auf dem Tunnelboden zerschellte. Wahrscheinlich war der Tunnel zur Flucht aus dem Tempel und nicht zum unbemerkten Eindringen konzipiert worden.
Angel betrachtete die weißen Scherben einen Augenblick lang mit gespitzten Ohren und hoffte, dass ihr kleiner Kollateralschaden sie nicht verraten hatte. Als sie keinerlei Anzeichen für einen
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