Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
werden die Leute uns beschuldigen. Sie finden uns längst verdächtig, merkst du das nicht?
– Nein, sagte er, und statt darzulegen, warum er das nicht glaubte, legte er seine Hand auf ihre Hüfte. So einfach geht das nicht, dachte sie, er redet und redet auf mich ein, dabei will er mich eigentlich nur anfassen. Sie drehte sich, bis seine Hand von ihrer nassen Bikinihose rutschte.
– Wie ist es mit Myrbäck?, fragte er. Kommt ihr klar?
– Wie meinst du? Sie war überrascht von seiner Dreistigkeit.
– Ihr geht doch ins Bett miteinander. Ihr küsst euch, wenn ihr glaubt, dass niemand zusieht.
– Stört es dich?
– Nein. Er sah sie nachdenklich an. Ein Teil des Himmels spiegelte sich in seiner Iris.
– Doch. Du bist eifersüchtig.
– Nein. Bin ich nie. Ich sag’s dir.
– Hast du uns belauscht?, fragte sie. Neulich, im Haus?
– Nein. Er sah sie betont unschuldig an.
– Ich glaube dir nicht. Du hast dich die Treppe hochgeschlichen und an der Wand zu meinem Zimmer gelauscht.
Er schüttelte den Kopf. Auf einmal sah er mutlos aus, fand sie.
– Und, seid ihr jetzt ein Paar?, fragte er.
– Weiß nicht. Mal ja, mal nein.
– Aber du bist in ihn verliebt?
Sie nickte.
– Du liebst ihn? Du meinst es ernst?
Sie überlegte, doch ihr fiel keine Antwort ein, mit der sie zufrieden gewesen wäre. Sie kramte einen Kaugummi aus ihrer Badetasche und bot auch ihm einen an.
– Also, liebst du ihn oder nicht? Holzapfel ließ nicht locker. Er macht sich ein Vergnügen daraus, mich mit Fragen zu quälen, die ich mir selbst nicht stellen möchte, dachte sie.
– Komm schon. Was glaubst du?
– Glauben? Was man glaubt, ist völlig egal. Was geht es dich an, was zwischen mir und Myrbäck läuft?
– Ich bin auch in dich verliebt.
Zuerst erschrak sie. Ein schöner Satz, dachte sie dann. Ganz schön mutig. Sie lachte ihn an, schon wieder, und sagte:
– Du bist bloß ein Poser.
– Und? Seine blaugrauen Augen hielten ihren Blick fest, während er fragte.
– Und was?
Es ging schnell. Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf den Mund. Seine Zunge hielt er zurück, doch seine Hand lag plötzlich auf ihrer Schulter und strich über ihre Halsbeuge. Es gefiel ihr. Er roch gut.
– Lass das, sagte sie. Sie hielt seine Hand. Das geht nicht.
Er küsste ihren Hals. Sein Daumen strich an der Innenseite ihres Armes entlang. Sein Beckenknochen presste gegen ihre Taille und noch etwas anderes Warmes. Sie führte seine Hand an ihren Bauch und griff mit einem Ruck in seine mageren Hinterbacken, ein wenig erschrocken über die angespannten Muskeln, die unter der nackten Haut lauerten. Er legte die Lippen auf ihr Ohr, und da war sie, seine Zungenspitze.
Bevor sie ihre Augen schloss, sah sie noch, dass an der Horizontlinie Dunst aufgezogen war. Nicht lange, dann würden Schleierwolken vor die Sonne ziehen, später am Abend würde vielleicht Wind aufkommen, in der Nacht sogar Regen, und spätestens dann würde sie sich einreden wollen, dass sie einen wie ihn mit Freuden an ihre Haut lassen durfte, niemals aber in ihr Herz.
Christiania, September 1985
Wenn der Wind von Süden weht, dann riecht es manchmal nach der Kläranlage am Kløvermarken.
Sie schloss das Fenster ihres Zimmers und wanderte durch das leere Haus, ohne ein bestimmtes Ziel. Als sie in die Küche kam, zog sie die Schubladen unter der Arbeitsplatte auf. Besteck und ein Eierschneider, an dem kleine, harte Stücke Eiweiß klebten. In einer anderen Lade Bleistifte und Horoskopzettel. Kochrezepte, die ihre Mutter aus Zeitschriften ausgerissen hatte. Ein vergilbtes Flugblatt mit einem Aufruf der OOA: »Keine Atomkraft in Århus!« Eine Brieftasche, aber leer.
Zwischen den Töpfen und Pfannen der Vitrine entdeckte sie den kleinen roten Spielzeugkoffer ihrer Schwester. Mit einer verbogenen Gabel öffnete sie die Blechschlösser. Außer den zusammengefalteten Papiertüten mit den vertrockneten Schmetterlingen fand sie dort nichts. Erst wenn die Totenstarre sich löst, so hatte es ihr Lilja erklärt, steckst du den Falter mit geklappten Flügeln zum Trocknen in das Papiertütchen. Sie nahm eine von ihnen und öffnete sie. Der Schmetterling lag dort mit gelbweißen, zusammengelegten Flügeln. Er hatte einen dunklen Abdruck auf dem Papier hinterlassen. Das ist wohl sein Blut, dachte sie. Lilja hatte alle ihre Schmetterlinge ganz alleine mit dem Kescher gefangen. Vielleicht wird sie mal eine weltberühmte Schmetterlingsforscherin und in einer Bretterbude leben,
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