Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
seh’ doch nichts.
– Setz deine Brille auf.
– Ja, wo ist sie denn?
Sie behielt für sich, dass er seine Brille so unachtsam auf dem Steg in ihre Badetasche hatte fallen lassen. Die Muschel warf sie fort. Sie nahm die Flasche Mineralwasser aus dem Sand und trank mit großen Schlucken. Das Wasser schmeckte abgestanden.
– Wo ist Heidi?, fragte sie.
– Holt Malin von der Nachmittagsfähre ab. Übers Wochenende. Glaub ich.
Jan sprach angenehm langsam, fand sie. Er musste sich sein Englisch während des Sprechens zusammensuchen.
– Wie wird sie ihr beibringen, dass ein Verrückter die beiden Kaninchen massakriert hat?
– Ein Fuchs ist es gewesen. Das sollen wir sagen. Er schüttelte sein Haar zurecht. Es sah zerzaust aus und nach Salzwasser. Er hat sich rasiert, und er trägt seine Brille nicht, das macht ihn jünger, dachte sie. Vielleicht ist es auch, weil er fast nackt vor mir liegt, nur ein großes blaues Frotteehandtuch um die Hüfte.
So, als könne er ihre Gedanken lesen, fragte er:
– Wusstest du, dass Kurzsichtige schlauer sind? Sie haben einen um acht Punkte höheren Intelligenzquotienten. Im Durchschnitt.
Sie lachte kurz. Sie warf sich auf das Badetuch und nahm ihr Buch hervor.
– Weißt du was? Ich habe geschielt, als ich vier war. Monatelang musste ich eine Brille tragen, deren eines Glas geschwärzt war.
– Und jetzt wünschst du, ich möge dir voller Mitleid um den Hals fallen? Der kleine Jan wird auf dem Spielplatz von allen gehänselt und von der Schaukel gestoßen. War es so?
– So ähnlich. Ich wurde gehänselt, das stimmt so weit. Aber ich war es, der die anderen von der Schaukel stieß.
– Spannend. Sie warf ihm einen genervten Blick zu und warf sich auf die Seite, weg von ihm.
– Weißt du, wer alles schon auf meinem Bettlaken geschlafen hat? Er ließ nicht locker.
– Lass mich raten, sagte sie. Die deutsche Damenhockeymannschaft? Lady Gaga?
– Noch cooler.
– Kurt Cobain?
– Nein, viel besser. Patti Smith.
– Aha. Wie kam das?
– Sie ist in Hamburg aufgetreten und hat im Hotel Atlantik übernachtet.
– Und du warst ihr Groupie?
– Ich war Laufbursche dort. Und ihre Zahnbürste habe ich in einem Würstchenglas aufbewahrt.
– Was? Du hast sie immer noch?
– Nein, das war ein Witz.
Er stand auf und setzte sich am Rand der Bucht auf einen Kiefernstamm, sonnengebleicht und vom Sand poliert, der Knochen eines Sauriers. Ihre Konzentration war dahin. Sie klappte ihr Buch zu und beobachtete ihn dabei, wie er kleine Steine ins Wasser warf, dann auf die Bohlen des Stegs zielte. Was willst du von mir?, fragte sie sich. Soll das ein Vorspiel sein? Nie hatte sie mit einer Bewegung, mit einem Blick ein derartiges Interesse an ihm bekundet. In manchen Momenten aber fühlte sie sich angezogen von seiner jungmännlichen Art, seinem unreifen Getue. Es ließ sich gut mit ihm spielen, bestimmt, aber nur so obenhin.
– Wie ist es hier im Winter, auf den Inseln?, fragte er. Das Steinewerfen hatte er aufgegeben.
– Das Wetter ist das der See. Schon im Oktober fällt der Nebel über die Inseln her, in manchen Jahren hält er sich bis Weihnachten. Der Frost packt später zu als auf dem Festland, vor Mitte Januar dringt er kaum einmal in den Boden ein.
Während sie sprach, hatte er sich wieder neben sie gelegt. Die Kinder und ihre Spaniels waren verschwunden. Kein Ruf war zu hören, kein Bellen. Holzapfel begann von einem Immobilienmillionär zu erzählen. Von einem Deutschen, der mit seiner Frau und zwei Dalmatinern gegenüber auf Rundklubben ein Sommerhaus besaß.
– Rundklubben, du weißt? Er deutete mit gestrecktem Arm auf eine der Inseln, die ermüdend eintönig vor der Küstenlinie Torös lagen.
– Sie kommen immer freitags gegen sechs, beladen ihr Boot und ab ins Wochenende. Seinen Jeep lässt er bei Freunden in Havsbad im Garten stehen. Neulich bin ich um seine Insel gefahren, und rate, was ich entdeckt habe?
– Keine Ahnung. Sie war zu träge, sich Gedanken zu machen.
– Zwei fette Motorboote. Sie liegen den Sommer über vor seiner Villa und setzen Muscheln an. Vier Motoren hat er im Wasser hängen. Vier mal achtzig PS. Einspritzung, Jetantrieb.
– Und die willst du ihm abnehmen?
– Nein, du hörst gar nicht zu. Wir haben schon ein Boot, auch wenn es klein ist. Nein, seinen Jeep will ich. Ein Jeep Grand Cherokee. Ein SRT8. Hat 470 PS.
– Mein Lieber, man soll nicht in der Nachbarschaft wildern gehen. Was immer hier passiert, früher oder später
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