Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Schlüsseldreh frei. Zum Abschied des Seminars wurde sämtlichen Teilnehmern des Lehrgangs ein roter Kunststoffkasten überreicht. Das »Öffnungs-Set«, kaum größer als ein Aktenkoffer, war im Seminarpreis enthalten.
Unbekümmert hatte der blutjunge Myrbäck sich an den Verkauf gestohlener Autoradios und begehrter Reserveteile gemacht, schließlich die Wagen ganz und gar und mit ihnen wohl auch seine Talente für rechtschaffene Arbeiten verschleudert. Er versuchte, sich die Atmosphäre jener Wochen und Monate zu vergegenwärtigen, die am Beginn seiner zweifelhaften Karriere lagen. Es gelang ihm nicht. Ich bin mir selbst immerzu gleichgültig gewesen, dachte er bei sich. Ich denke überhaupt zu wenig.
Scheiß drauf. Es musste auch solche wie ihn geben. War nicht die Sorglosigkeit eine Gottesgabe?
Bevor er sich von einer Identitätskrise an Bord der »Prinsesse Benedikte« niederstrecken ließ, führte er seinen Sohn zu einem der Tische in der Kinderecke der Fähre. Er setzte ihn vor einem Fernsehschirm ab und betrat das Bordgeschäft.
Er kaufte einen Karton Carlsberg, Cognac und deutsche Illustrierte für Heidi. Über steile Eisentreppen stieg er in das zweite Autodeck hinab, schob sich im Dröhnen der Schiffsmotoren an regennassen Autokarosserien vorbei, ließ sich vom Fahrer des Reisebusses den Gepäckraum öffnen und verstaute seine Mitbringsel. Drei Parkreihen hinter dem Bus sah er zwei Figuren regungslos im Fond eines braunen BMWs sitzen. Während er mit seinen Einkäufen hantierte, versuchte er unauffällig, genauer hinzusehen. Zwei Männer. Die, so kam es ihm vor, in seine Richtung starrten. Er sah zu, dass er wieder ans Tageslicht kam.
Das Ende ihrer Fährreise verbrachten Vater und Sohn auf den blauen Loungesesseln des Oberdecks. Die Sonne schien auf einmal grell durch das gläserne Dach über ihren Köpfen. Myrbäck trank heißen Tee und begann zu schwitzen. Er versuchte zuzuhören, was Ed zu erzählen hatte, aber es war eine Erzählung aus der Schule, in der Ole gemein gewesen war zu Katie, woraufhin Katie Dorians Füller nach Ole geworfen, dabei aber Lucy am Rücken getroffen hatte, sich nicht entschuldigen wollte, und spätestens jetzt verlor er den Faden. Erleichtert sah er, dass am Horizont die Stahlgerüste der Fähranlage Rødbyhavns auftauchten.
Auf ihrer Fahrt durch Dänemark zog sich die Landschaft wie ein braunes Tischtuch. Sie passierten halb zugefrorene Tümpel und Wiesen, die voller Wasser standen. Hinter Haslev passierten sie eine Reihe von Hügelketten, auf der sich Dutzende weiß-grün gestreifter Windräder verteilten. Ihre Rotorblätter drehten sich im Wind, als gelte es, mit aller Macht abzuheben und die elende Landschaft hinter sich zu lassen.
– Wann brechen Windräder ab?, fragte Ed.
– Gute Frage, antwortete Myrbäck. Keine Ahnung. Wenn sie übertreiben.
Als sie den Flughafen Kastrup hinter sich ließen, tauchte die Ostsee wieder vor ihnen auf. Aus den Wellen waren Wogen geworden, die Schaumkämme hatten sich aufgelöst. Während ihr Bus leicht schwankend die Auffahrt zur Öresundbrücke nahm, sahen sie, dass sich kleine, runde Wolken am östlichen Himmel versammelt hatten. Weiße Tupfer auf blauem Grund, riesige Schafsherden, bereit zum Marsch auf das Festland.
II
E in blaues Auge. Ist das alles, was von einem fünfunddreißigsten Geburtstag übrig bleibt?
Nein, da liegen die Champagnerpralinen auf dem Rolltisch am Fenster, Grußpostkarten und ein Küchenmixer, für den die Kollegen gesammelt haben. Eine Cognacflasche von Knut, eingeschlagen in ein verlegenes Lächeln. Zuoberst ein Päckchen von Jan, das bunte Geschenkpapier an den Ecken gerissen. Geöffnet hat sie es noch nicht. So sind sie, die großen Schwestern. Fürsorglich ersparen sie ihren kleinen Brüdern die Schande, ihre plump, ihre herzlos gewählten Geschenke vor aller Welt ausgepackt zu sehen. Ihr liebstes: eine Halskette aus bunten Glassteinen, Malin hat sie ihr gebastelt.
Doch was wirklich fehlt, was sie dringend bräuchte, findet sie nicht in dem Stapel ihrer Geschenke. Eine dicke Schicht neuen Lacks. Der alte blättert.
Heidi Olofsson, geborene Holzapfel, trat vor den Garderobenspiegel. Was hatte dieser Anblick ihr jetzt zu sagen? Ich trage eine Jeans, die ich unten zu mutig nach oben gekrempelt habe, die mir oben zu weit um den breit gewordenen Hintern sitzt. Klein und gedrungen bin ich durch den Tag geschritten, am Ende noch mit einem dicken Tränenauge. Ich habe rostroten Lippenstift aufgelegt,
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