Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
sah sie auffordernd an. Er sagte: Na, kommt.
Er wohnt in Ljusne, antwortete sie schließlich. Wo wir herkommen. Aber meine Mutter sagt immer: Er ist plemplem im Kopf. Er spinnt.
Wir wollen nicht, dass er zu uns kommt, sagte Lilja.
Wir gucken mal, was wir machen können, sagte Per.
Nach dem Essen führte Catrine sie und Lilja in ein Zimmer unter dem Dach. In seiner Schräge stand ein großes Bett. Es war warm. Sonnenlicht schien durch das Fenster herein. Catrine ließ eine Jalousie vor das Fenster fallen und sagte: Macht euch keine Sorgen. Es wird so schlimm schon nicht sein. Sie saß eine Zeit bei ihnen auf dem Bettrand, bevor sie wieder nach unten ging.
Das Bett, in dem sie lagen, roch fremd. Vor ihrem Gesicht hing ein brauner Teppich an der Wand, auf dem eckige rote Vögel mit braunem Gefieder zu erkennen waren. Durch den Holzfußboden konnte sie die Stimmen von Catrine und Per hören, nicht mehr als ein Gemurmel.
Am Nachmittag würde sie zur Kerzengießerei gehen müssen. Dort war sie zweimal in der Woche, weil alle Kinder in Christiania zweimal in der Woche arbeiten mussten. Nur Lilja nicht, hatte ihre Mutter gesagt, weil sie noch zu jung ist zum Arbeiten.
Mittlerweile verstand sie, nach welchem System sie die Fäden zwischen den Haken des Metallkorbes zu spannen hatte. Am Ende sollten vier Körbe von einem Gestell herabhängen. Sie ließen sich drehen und wurden über ein Fass mit Kerzenwachs gehängt. Sie hatte gelernt, die Gestelle gleichmäßig in das heiße Wachs zu tauchen. Nicht alle Bewohner von Christiania lebten mit Strom, doch in der Kerzengießerei schafften sie genug Kerzen für alle. Deshalb durfte sie die Schule manchmal schwänzen, hat ihre Mutter gesagt, niemals aber ihre Arbeit in der Kerzengießerei. Vor ein paar Tagen hatten alle das Mittsommerfest gefeiert und vom Mælkebøtten so viele bunte Chinesische Ballons mit heißer Luft aufsteigen lassen, dass sich am nächsten Tag der Direktor des Flughafens in Kastrup beschwerte. Die Nächte waren jetzt kurz, und nur wenige Kerzen wurden verbraucht. Heute würde sie das Kerzendrehen schwänzen. Ihre Mutter hat ja selber Schuld.
Sie war froh, dass sie nicht auf dem großen Sofa in der Küche schlafen musste. Die Küche stand voller Kühlschränke und stank. Catrine und Per versorgten ganz Christiania mit Butter. Zweimal im Monat reisten sie mit dem Schiff nach England und kauften Koffer voll mit dänischer Lurpak-Butter, weil die dort billiger war als zuhause.
Vielleicht hatte ja auch ihre Mutter so eine Idee gehabt. Dann wird sie morgen mit Kartoffeln oder Puddingpulver wieder zu ihnen zurückkehren, überlegte sie. So wie im Winter einmal. Da war sie den ganzen Tag lang unterwegs gewesen und stand am Abend mit einem riesigen Radio in der Tür, mit dem man nicht nur Radio Freies Christiania hören konnte, sondern auch Sendungen aus Sundsvall oder Umeå. Oder sogar aus Arabien. Obwohl sie diesen Radiokanal dann doch nie gefunden hatten.
Es wird so schlimm schon nicht sein.
U m Mitternacht brachen Vater und Sohn Myrbäck mit schweren Reisetaschen zum Omnibusbahnhof auf. Bei McDonald’s saßen sie über farblosen Pommes Frites und sahen sich die anderen späten Gäste an: wartende Reisende wie sie, Gruppen junger Männer, ein Junkiepärchen in verschlissenen Anoraks. Übersättigt bestiegen sie den Zwei-Uhr-Bus und setzten sich in die vordere Reihe des Oberdecks. Hier würden sie die beste Aussicht auf den Weg haben, der vor ihnen lag.
Die Abfahrt war pünktlich, der Bus fast leer. Quer durch die schlafende Stadt fuhren sie zur Autobahn. Knut Giovanni schloss die Augen; das Gesicht Raschkes tauchte auf. Diese auf komische Weise zusammengesetzten Züge, sein schütteres Haar. Raschke tat ihm leid. Wer würde ihn zu Grabe tragen? Raschkes Eltern waren tot, sein Bruder wohl zu krank, sich um Totenschein, Sarg, Grabbrief zu kümmern.
Gab es da noch Freunde, die sich, anders als der fliehende Holzapfel oder der verschwundene Stanczak, kümmern würden? Myrbäck wusste zu wenig über Raschkes Leben jenseits der Werkstatt und des Gewerbehofes. Hatte Raschke gelogen? Hatte er doch von dem bronzefarbenen Audi Q7 gewusst? Myrbäck schlief ein, den Kopf ans vibrierende Fenster gelehnt.
Als er die Augen wieder aufschlug, reihte sich der Bus in eine Warteschlange auf dem Kai des Fähranlegers ein. In den Sitzreihen hinter sich konnte er die müden Gesichter der Mitreisenden im Morgenlicht erkennen.
Er und Ed stiegen aus. Böen riffelten das Wasser
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