Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
nicht spekulieren. Er war ein ungebetener Gast. Der aus einer längst vergangenen intimen Beziehung zur Gastgeberin das höchst zweifelhafte Recht ableitete, sich bei ihr einquartieren zu dürfen. Wäre er ohne seinen Sohn im Schlepptau vor ihrer Türe aufgetaucht, Heidi hätte ihn zum Teufel geschickt, den untreuen Ex-Liebhaber. Obwohl. In strenger Hinsicht war er nie untreu gewesen. Er war einfach gegangen, weil es nicht mehr lief zwischen ihnen. Weil sie sich nicht mehr küssten, sondern stritten. Worüber? Er erinnerte sich nicht. Und was hatten sie damals miteinander im Bett getrieben? Bildfragmente tauchten in seinem Kopf auf: Dinge, die Verliebte tun, jung, überschwänglich, ohne Geschick, na und? Wenn eine meiner Geschichten beendet, die Liebe einmal verflossen ist, dann lasse ich sie hinter mir. Myrbäck begriff Menschen nicht, die voller Eifer zurückblickten und sich, noch nach Jahren, an Gesten und Blicke, erste Liebkosungen erinnerten.
– Und was sagst du zu der Kleinen?, fragte Holzapfel von seiner Matratze. Genau dein Typ.
– Wer jetzt?
– Sassie Linné.
– Da hast du mal Recht, antwortete Myrbäck. Er dachte oft an das ernste, schmale Gesicht mit den schwarzen Brauen, ein Flügelschlag über Nachtaugen. Schokoladenbraun. Moorseebraun. Rehbraun. Colabraun. Wie auch immer, in sie hineinzuschauen brachte sein Herz zum Stolpern. Aber was ging es Jan an? Er fragte:
– Und du? Stehst du auf Sassie?
Statt zu antworten kramte Holzapfel in einem Haufen Medikamentenschachteln herum. Für jede möglicherweise mit einer banalen Verkühlung einhergehende Komplikation hatte er sich bei seiner Schwester mit Tinkturen und Tabletten versorgen lassen. Das Rascheln von Papier wollte nicht enden.
– Was tust du da?, fragte Myrbäck.
– Beipackzettel lassen sich nicht auf Anhieb wieder zusammenfalten, antwortete Jan. Endlich legte er sein massives Brillengestell ab, blinzelte einen Gutenachtblick in Myrbäcks Richtung und löschte das Licht seiner Lampe.
Myrbäck fand keine Ruhe. Aus der Küche hörte er die Stimmen Heidis und Sassies. Dann ein Türenschlagen. Malins Bett war zu kurz für ihn. Schuld an seiner Schlaflosigkeit aber war nicht das zu kurze Bett, sondern seine eigene Mutter. Für keinerlei Hokuspokus empfänglich, jeglichem Mystizismus abgewandt, hatte sie doch in dem Irrglauben gelebt, Kinder hätten nachts mit ausgestreckten Beinen zu schlafen, sonst würden diese verwachsen; sonst würde, im Kleinen wie im Großen, nichts aus ihnen im Leben. Der mütterliche Wahn hatte sich auch an ihm manifestiert. Seit er denken konnte, schlief er gerade und steif wie eine Schiffsplanke ein. Manche der Frauen, die Bett und Nacht mit ihm geteilt hatten, fanden es anstrengend, neben einem Aufgebahrten in den Schlaf zu fallen, neben einem Liebhaber in Totenstarre.
Könnte er sich jetzt nur ein einziges Mal strecken!
Immer wieder sackte er in einen Dämmerzustand, aus dem ihn ein Husten seines Sohnes oder ein Grunzen Holzapfels riss. Sofort fing dann sein Herz an zu rasen, sein Gehirn lief auf Hochtouren und führte ihm die Bilder der vergangenen Tage vor – eine verkohlte Werkstatt, einen Finger, die Kabelstränge am Boden einer Baugrube –, bis er die Augen öffnete und sein Blick auf ein Ponyposter an der Türe des Zimmers fiel.
Man hatte bei ihm eingebrochen, er hatte Hamburg verlassen und tausend Kilometer weit in den Norden fliehen müssen. Mit seinem Sohn im Gepäck. Kein Tag verging, ohne dass Maria ihn anrief oder eine Nachricht auf seiner Mailbox hinterließ. Sie müsse mit Ed sprechen, sofort. Sie frage sich, ob er den Verstand verloren habe, schlagartig? Oder erklären könne, wieso das Schloss zu ihrer Wohnungstür plötzlich klemme? In ihrem letzten Gespräch hatte sie ihm mit Interpol gedroht. Kindesentführung.
Mit einem Ruck stand er auf, stieg über einen rosa Sessel und stellte sich im Pyjama ans Fenster. Die Scheiben waren vom Nachtreif gezuckert. Er schob die Gardinen zur Seite und öffnete das Fenster.
Eiskalte Luft blies herein und legte sich auf die nackte Haut seiner Brust. Bei einem Blick zurück in das Zimmer sah er im Dunkel den entblößten Rücken Holzapfels aufschimmern. Holzapfel hatte ein paar Pfund zugelegt, es war nicht zu übersehen.
Er trat drei Schritte zu Holzapfels Matratze und rüttelte ihn wach.
– Von wo aus hast du mich angerufen?
Holzapfel starrte ihn ungläubig an.
– Vom Fähranleger, antwortete er schlaftrunken. In Puttgarden.
– Du hast mich wie
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