Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Sparbuch: 634 Euro, mehr war dort in den Jahren nicht zusammengekommen.
Zügig ging er durch den Sternschanzenpark, holte seinen Sohn vom Fußballtraining ab und hielt ihn nach dem Abendbrot dazu an, für eine Reise sein Nötigstes an Schulsachen auf einem Haufen zu sammeln. Er selbst begann mit dem Packen, während er sich ein paar Sätze zurechtlegte, die eine Entführung seines Sohnes zwar nicht rechtfertigen, aber ein wenig erklären könnten. Nur für den Fall, dass Maria ihren allwöchentlichen Fernsehabend mit Freundinnen vorzeitig verlassen würde.
Ich fahre nach Schweden. Also Ed und ich. Ed nehme ich mit.
In zwei Wochen sind wir zurück.
Pünktlich zum Schulbeginn.
Versprochen.
Christiania, Juni 1985
Lilja sah aus wie eine Vogelscheuche.
Du siehst aus wie eine Vogelscheuche, sagte sie. Sie stand vom Küchentisch auf, ging auf Lilja zu, griff sie ungeduldig bei der Hand und führte sie vor den Spiegel im Badezimmer. Sie nahm den großen blauen Plastikkamm und sagte: Wir müssen dich kämmen. So kannst du nicht vor die Tür gehen. Lilja stieß sie weg und begann zu weinen.
Sie ließ ihre kleine Schwester vor dem Waschbecken stehen und lief durch den Flur, der morgens immer so düster war wie eine Dunkelkammer. Sie fand die Katze in Liljas Bett, am Fußende, zwischen einem Haufen alter Stoffreste, mit denen sie sich manchmal als Prinzessin oder Seejungfrau verkleidete. Der Katze fehlten beide Ohren und fast alle Schnurrbarthaare. Vom vielen Waschen war ihr Grün an manchen Stellen grau geworden. Zurück im Badezimmer drückte sie Lilja das Stofftier in die Arme. Hier, sagte sie, du musst jetzt aufhören zu weinen.
Hand in Hand gingen sie aus dem Haus. Die Sonne stand schon über dem Dach und wärmte die Haut. Von irgendwoher roch es nach feuchter Asche. Rauch war nirgends zu sehen. Auf ihrem Weg zu Catrine und Per fing Lilja wieder an zu weinen. Bei jedem Schluchzen hüpfte ihre kleine Brust.
Die Tür zum Haus von Catrine und Per stand offen. Per saß an der Nähmaschine und blickte kaum auf, als sie hereinkamen. Hallo, sagte er. Er war ein Mann mit haarigen Händen und haarigen Zehen, die vorne aus seinen Sandalen herausragten. Fast immer saß er an der Nähmaschine und nähte Cordhosen und Lederwesten für die Leute von Christiania. Vor ein paar Wochen hatte er ein Loch in die Außenmauer des Hauses geschlagen und ein rundes Fenster eingesetzt. Damit die Arbeit mir nicht die Augen verdirbt, hatte er erklärt. Er war Grönländer und fror nie.
Catrine kam mit ihrem dicken Bauch die Treppe herunter. Was ist mit euch?, fragte sie.
Mama ist weg, antwortete sie. Und sie kommt nicht wieder.
Wieso glaubst du das?, fragte Catrine.
Sie wusste keine Antwort.
Setzt euch erstmal hin, sagte Catrine und führte sie in die Küche. Ich mache euch was zu Essen. Und dann legt ihr euch hin. Ihr seht ja aus, als hättet ihr die ganze Nacht kein Auge zubekommen.
Catrine füllte zwei Gläser mit einem roten Traubensaft und stellte sie auf den Tisch. Sie stieg in ihre Holzschuhe, die bunt bemalt waren und an den Hacken schief gelaufen, und sagte: Ich geh mal bei euch nachschauen.
Nach ein paar Minuten kehrte sie zurück und sprach im Nebenzimmer leise mit Per. Sie kam schweigend in die Küche, stellte eine Pfanne auf den Herd und nahm eine Handvoll Kartoffeln und eine riesige gelbe Zwiebel aus einem Korb und legte sie auf ein Schneidebrett. Sie fing an, die Zwiebeln zu schneiden. Auf einmal drehte sie sich um und winkte mit dem Messer durch die Luft, wischte die Tränen unter ihrer Brille weg und sagte: Wir können eurer Mama wegen nicht gleich zur Polizei gehen. Die bringen euch irgendwohin. Wir warten jetzt mal ab.
Sie sagte nichts. Lilja nickte mit dem Kopf. Vom vielen Weinen waren ihr die Augen aufgequollen. Sie war zu klein für die Holzbank, auf der sie saßen. Ihre Beinchen schlenkerten in der Luft, und sie versuchte, ihre Stoffkatze mit einem Mandelkeks zu füttern, den ihr Catrine gegeben hatte. Catrine arbeitete in der Bäckerei. Bei ihr gab es immer Kuchen und Kekse und frisches Brot zu essen.
Als sie und Lilja vor ihren Tellern mit den Bratkartoffeln mit fein geschnittenen Zwiebelringen und einer dunklen Brotscheibe saßen, setzte sich Per zu ihnen und sagte: Wir müssen versuchen, euren Vater zu finden. Wisst ihr, wo er lebt?
Sie wartete mit einer Antwort ab. Als sie es nicht mehr aushielt, schweigend in Pers fragendes Gesicht zu blicken, schüttelte sie den Kopf. Lilja machte es ihr nach.
Per
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