Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
von dem meine Tochter behauptet, er passe besser zu einer Frau von zwanzig Jahren. Habe mir die Augenbrauen rupfen, die Haare schneiden und strähnen lassen, und jetzt ziert mein Haupt eine Frisur von schlimmster Vorortfasson. Mäusefell, glanzlos. Ich sehe nach ungevögelter Schulkrankenschwester aus, die ich ja bin. Aber wozu taugen verrinnende Geburtstage, wenn nicht für Kübel voller Selbstmitleid? Womit ich bei der Sache wäre: Alter und schwindende Schönheit sollten mir geringe Sorgen machen.
Das wirkliche Problem: Meine Wohnung wurde im Handstreich genommen. Ist Ort einer Invasion.
Es war ein Uhr früh, und sie stand hellwach in der Küche ihrer Wohnung im Heimdalsväg, Hausnummer zwölf, sechster Stock. Zwei letzte Kerzen brannten, Weingläser standen halbleer herum, neben Mokkatassen, Kuchenresten.
Ihr kleiner Bruder war als Vorhut gekommen, ein triefnasser Sack, der sich vor ihre Türe gewuchtet hatte. Für ein paar Nächte, klar, dann wäre er wieder weg. Hatte er gesagt. Er stecke gerade knietief in einer Klemme. Knietief! Klemme! Wenn man sie fragte: Jan selbst war die Klemme, in der er steckte.
Am Abend darauf war Knut gekommen, mit seinem rotznasigen Sohn. Für zwei, drei Nächte nur, klar, dann würden sie anderswo eine Bleibe finden. Nicht daran zu denken, sie wieder in den Regen zu schicken.
Führte sie hier ein Wanderheim? Ein Nachtasyl auf siebzig Quadrat? Vier Erwachsene und zwei Kinder, eingepfercht wie Vieh, ohne Rücksicht auf das komplexe Beziehungsgeflecht, das sich zwischen Menschen entspann, die miteinander verwandt waren, befreundet, die es mal miteinander getrieben hatten, die einander erst geliebt, dann gehasst hatten, das Übliche eben.
Gleich morgen würde sie ihren Bruder anweisen, ihr bei Aufräumarbeiten auf dem Balkon zu helfen. Dort galt es, Platz für den Kaninchenkäfig zu schaffen, Grasnelken zu setzen, Kunstrasen auf dem grauen Beton auszulegen. Das Frühjahr möge kommen.
– Wie geht’s deinem Auge? Die leise Stimme Sassies riss sie aus ihren Gedanken. Lautlos war sie in die Küche getreten, sich ein Glas Wasser für die Nacht zu holen.
– Geht schon. Ich kann wieder sehen.
Sie hörte selbst, wie übellaunig ihre Worte klangen. Egal. Wenn sie schlau wäre, würde sie schleunigst zu Bett gehen. Morgen früh würden sie wieder im Dutzend vor ihrem Behandlungszimmer antanzen, Kinder, sogar Kollegen. Das ungewöhnlich milde Wetter war schuld daran, dass sie schlapp machten, keuchend, fiebrig leidend. Mit tropfender Nase wie der kleine Myrbäck, ein süßer Junge eigentlich, seinem Vater nicht unähnlich, aber er hatte den Erkältungsvirus hier eingeschleppt.
Die Nächste, die nach Luft japsen wird, ist das Fräulein Linné, jede Wette. Kein Gramm Fett am Körper. Keine Widerstandskräfte. Wenn sie nicht abends vor den Spätfilmen säße und pausenlos die Schokoladencreme aus dem Glas in ihren Kirschmund schaufelte, dann würde ich argwöhnen, dass sie magersüchtig ist.
Wenn ich reich wäre. Geld hätte. Wenn ich meine Untermieter zum Teufel jagen könnte. Ich hätte mir nicht auch noch diesen Hungerhaken in die Wohnung geholt. Eine Frau, die aus dem Norden kommt und wortkarg ist, aber so werden sie dort oben ja geboren. Sie hat ein hübsches Gesicht, wenn sie auch immer zu streng blickt. Das liegt wohl an der Fessel über ihrem Fuß.
Heidi trat aus der Haustür. Schwere Flocken fielen in geraden Linien vom Himmel hinab. Der Schnee lag matschig auf den Wegen. Der Kiosk unten an der Straße war längst geschlossen. Die Ampel an der Unterführung blinkte ein sattes Gelb in die Nacht.
Von der Straße fuhr ein Wagen mit Abblendlichtern herauf und blieb vor dem Häuschen der Müllsammelstelle stehen. Ein Automotor auf niedrigen Touren, ein breiter dunkelgrüner Wagen mit einem einzelnen, langsamen Scheibenwischer. Wer ein solches Auto fuhr, dachte Heidi, der kann sich eine Villa auf Trehörningen leisten. Der lebt nicht in der Heimdalsiedlung. Hier fuhr man Rad. Oder zog seine wackligen Knochen hinter einem Rollwagen her.
Der nasse Schnee war ein Ärgernis. Bis auf ein paar Tage klirrender Novemberkälte hat der Winter sich lange nicht blicken lassen, spät im Januar hatte er ununterbrochen Schnee geschickt, an drei Tagen blieben die Busse stehen. Dann war es wieder warm geworden, der Frost in die Nächte verbannt, und all die Wintersachen blockierten fortwährend die Garderobe.
Der Boden vibrierte, als auf den Gleisen unter ihr der Vorortzug heranraste, ein
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