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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk van Versendaal
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auf dem Pflaster und pfiffen am Dach einer verlassenen Zollstation entlang, in deren Windschatten sie sich verkrochen. Durch die Fensterscheiben sahen sie, dass mitten in dem leeren Raum eine verwesende Möwe lag. Durchgefroren trotteten sie über eine verglaste Gangway an Bord der Fähre.
    Kaum hatten sie das Hafenbecken Puttgardens verlassen, hieb starker Wind von Backbord auf die »Prinsesse Benedikte« ein. Das Schiff schlingerte. Ed blickte ihn beunruhigt an. Noch immer lief seine wund geputzte Erkältungsnase. Ihm wird doch jetzt nicht schlecht werden, dachte Myrbäck.
    – Ruhig atmen, sagte er. Tief atmen. Niemals auf den Boden blicken. Hoch die Nase!
    Ed nickte misstrauisch.
    Weil in den Speisesälen sämtliche Fensterplätze mit Aussicht belegt waren, suchten sie sich einen Platz im Bistro auf dem Arkadendeck. Hier waren die Lastwagenfahrer in der Mehrzahl. Sie saßen über Schnitzeln und Kartoffelsalat mit Mayo und blickten kauend auf das Morgengrau über der Mecklenburger Bucht.
    – Ich will nichts essen, sagte Ed leise.
    Als die Küstenlinie Fehmarns im Dunst verschwand, erstiegen sie das Sonnendeck. Der Wind blies ihnen die Haare in alle Richtungen. Die Ostsee war kabbelig, am Horizont grünlich, sonst bleigrau bis braun. Das Meer hier ist niemals blau gewesen, dachte Myrbäck, seit ich mich erinnern kann. Einmal war er mit seiner Mutter auf dem Weg nach Berlin über Trelleborg gereist und erst in der Nacht an Bord der Fähre gestiegen. Als sie am Morgen darauf mit gedrosselten Motoren den Hafen von Sassnitz anliefen, schwappte die See dunkelbraun im Prorer Wiek. Damals hatte er begriffen, dass es eine Lüge war, wenn die Leute behaupteten, die Farbe des Meeres sei Blau. Eine Notlüge.
    Er wollte Ed von seiner Erkenntnis erzählen, ließ es aber bleiben, als er sah, dass sein Sohn sich die Ohren mit Kopfhörern verstopft hatte. Er ist sieben, trägt zu lange Haare und hat kugelrunde Augen, dachte Myrbäck, und nichts auf der Welt rührt mich mehr als dieses Knopfgesicht.
    Sie verließen das Sonnendeck und reihten sich in die Schlange vor der Wechselkasse ein. Eine junge Frau mit dicken Zöpfen wechselte ihm sein Geld in Kronen. Sie sah ihn lächelnd an. Gerne hätte er zurückgelächelt, doch ihm fiel ein, was ihn und seinen Sohn so früh am Morgen zur Abreise gezwungen hatte: eine Flucht.
    Aus dem Vermesser und Auftragsdieb war ein Verfolgter geworden, ein Mann in zerrütteten Verhältnissen, der seinen Sohn verschleppte, ohne zu wissen, wohin, für wie lang. Es war verlockend sich vorzustellen, all dies sei innerhalb weniger Tage geschehen, zufällig, die Summe einer Reihe belangloser Unglücksfälle. Doch eine Stimme sagte ihm, dass dies nichts als ein Schöngerede wäre. Die Dinge waren seinen Hän den entglitten, nicht erst, seit er auf einem Firmenparkplatz in Hamburg-Osdorf einen Audi geknackt hatte. Nein, sein Leben war vor langer Zeit schon aus der Spur geraten, war noch ein paar Jahre schicklich an seiner Seite gelaufen, hatte eine Hochzeit, die Geburt seines Sohnes und einen bescheidenen beruflichen Aufstieg mitgetragen – bis es vor nicht einmal einer Woche ausgeschert war und jetzt den Abhang hinabraste, mit ihm im Schlepptau.
    An welchem Punkt seiner Vergangenheit hätte er eingreifen, anhalten, den Kurs ändern sollen?
    Knut Giovanni Myrbäck war zum Autodieb geworden wie andere zum Verkäufer oder zum Fitnesstrainer. Für 535 Mark plus Mehrwertsteuer. Er war als Botenjunge beim Schlüsseldienst Heese GmbH eingesprungen. Zwei Monate fuhr er Schlösser, Schlüssel, Dietriche quer durch die Stadt und stellte Großmütter ruhig, die sich aus ihren Wohnungen gesperrt hatten. Durch ein Versehen war er vom Buchhalter der Firma für einen Fortbildungskurs angemeldet worden: Am »Fachseminar über angewandte Öffnungstechniken« nahmen Feuerwehrmänner, Rettungsfahrer, Entriegelungsprofis jeder Couleur und er teil. Myrbäck machte sich mit Enthusiasmus daran, sein neues Handwerk zu erlernen.
    Man brachte ihm bei, Wagentüren ohne Schlüssel zu öffnen, lautlos, sekundenschnell, mit Haken und Ösen. Er übte Metallstreifen zwischen Scheibe und Fenstergummi zu schieben und lernte, Schließzylinder zu ziehen wie die Korken aus einem Flaschenhals. Er hantierte mit Glocken und Knackroh ren und begriff, dass der Kauf des »Elektro-Pickers« für 640 Mark eine Chance war, denn wie kein anderes Werkzeug rüttelte er seine spitze Blechzunge durch die Sperrstifte des Türschlosses und gab den

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