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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk van Versendaal
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Anklänge schöpferischen Könnens zu erkennen.
    Er stand im trüben Licht der Fahrstuhlkabine. Seine Turnhose und sein T-Shirt waren durchschwitzt von einer Laufrunde über die Waldwege Lövhagens.
    Er fragte sich, an welchem Punkt seiner Entwicklung der Mensch sich für seine Geschlechtsteile zu schämen begonnen hatte, statt ihre Komik zu begreifen. Wer hatte das erste Bild eines Phallus in eine Steinwand geritzt? In Momenten wie diesem bedauerte es Myrbäck, ein Mensch der Halbbildung zu sein. Bestenfalls.
    Der Flur der Wohnung lag in hellem Vormittagslicht. Die Strahlen der Sonne reichten bis unter die Garderobe und erleuchteten eine Sammlung achtlos abgelegter Schuhe. In der Küche saßen Holzapfel und Ed über den Schulheften, die sein Sohn über die Frühjahrsferien durchzuarbeiten hatte. Holzapfel, in rechnerischen Dingen hinlänglich begabt, half Ed bei der Lösung von Mathematikaufgaben.
    In ihrem Schlafzimmer stank es. Holzapfel hatte heimlich geraucht und dann nicht gründlich gelüftet. Myrbäck öffnete dessen Reisetasche und fand zwischen Unterhosen und zwei Stangen Zigaretten nicht mehr als eine Handvoll billiger Mobiltelefone samt Ladekabel. Er empfand keine Skrupel dabei, im Gepäck Jans herumzuschnüffeln. Denn ich habe das Sommerkleid mit den gelben Tupfern schon gesehen, bevor Heidi es gestern Abend so überraschend ungeniert vorgeführt hat.
    Myrbäck musste nicht einmal die Augen schließen, um das Flattern des Kleides im Fahrtwind zu hören.
    Über die schmale Eisentreppe stieg er zum Dachboden hinauf. Der Wind zog unter dem First entlang, schon an seinem Sausen meinte er hören zu können, wie tief die Temperaturen draußen gefallen waren. Direkt neben dem Maschinenraum mit der Antriebsmaschine für den Fahrstuhl fand er den Stellplatz der Heidi Olofsson. Er arbeitete sich durch Kleidersäcke, Bücherkisten, eingerollte Teppiche, bis er am Ende des Holzverschlags auf Holzapfels Rollkoffer stieß. Er war unter einer Wolldecke verborgen. Mit Mühe gelang es ihm, das überraschend schwere Gepäckstück ins Freie zu hieven.
    Sein Inhalt bestand aus nichts als einer Metallkiste. Ihr matter Glanz enttäuschte Myrbäck, aber sie war an ihren Längsseiten kunstfertig durch jeweils vier Muttern verschlossen und an sämtlichen Kanten mit schmalen Stahlstreifen verstärkt worden. Zurück in der Wohnung wuchtete er sie auf Holzapfels Luftmatratze und beobachtete ihr Wippen, bis sie in einer Kuhle zur Ruhe kam.
    – Holzapfel! Er rief nicht laut, wobei er einen Ton der Dringlichkeit in seine Stimme legte.
    Dann nahm er Stellung seitlich des Türrahmens ein. Den Rücken gegen die Wand gepresst, die Arme zum Schlag erhoben.

Christiania, Juli 1985
    Vor dem Jugendtreff stand eine langhaarige Frau in einem Wintermantel und riss Plakate von der Holzwand. Es waren Ankündigungen für ein Sommerfest in der Grauen Halle. Ein junger Mann ging zu ihr und stellte sich neben die Frau. Er sagte: Das kannst du nicht machen. Die Frau drehte sich zu ihm und stieß ihn weg. Sie war kräftig, der Junge stolperte und fiel auf die Seite. Er sah überrascht aus. Sie schrie mit einer schrillen Stimme: Hau ab. Verschwinde. Lass mich.
    Die Frau war alt, das konnte sie jetzt sehen. Sie hatte gelbe und graue Haare und knallrote Lippen, und ihr schwarzer Pelz sah aus wie das Fell der räudigen Hunde, die sie niemals streicheln durfte, weil sie sich sonst Flöhe und Zecken einfing. Diese Frau ist irgendwann einmal verrückt geworden, dachte sie. Vielleicht steht meine Mutter jetzt auch in einem dicken Wintermantel vor irgendeiner Plakatwand und reißt an einem Blatt Papier herum. Und an mich kann sie sich nicht mehr erinnern.
    Vielleicht werden in Christiania alle Leute komisch, überlegte sie. Neulich hat ein Kerl mit einem goldenen Sturzhelm sie in der Schlange beim Lebensmittelladen aufgefordert, ihm seine Krokodile wiederzugeben. Sie ist schnell fort. Ihre Schwester wird vielleicht auch eines Tages meschugge. Im Winter hat ein kleiner Kapuzineraffe sie in den Oberarm gebissen. Der Affe gehört zu den Leuten von der Sauna. Er saß ruhig auf ihrer Schulter, und im nächsten Augenblick biss er plötzlich zu. Er muss sich erschreckt haben, hat ihre Mutter gemeint. Am nächsten Tag bekam Lilja vom Doktor eine Spritze. In den Po. Damit sie nicht sofort verrückt wird.
    Gestern war Lilja den halben Tag über mit ihren Ausmalheften beschäftigt. Das Fell der Löwen, die Haut der Elefanten, die Wege zwischen den Käfigen, sie malte

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