Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
hatte das Radio eingeschaltet. Myrbäck hoffte inständig, sein Sohn möge sich nicht auf die Suche nach ihnen machen.
Es war Holzapfel, der seine Erzählung wieder aufnahm.
Aus Vorsicht und Angst war er nicht mehr in seine Wohnung zurückgekehrt, sondern mit dem Regionalexpress nach Lübeck gefahren. Sein Reisegepäck hatte er in einem Schließfach untergestellt. Er war durch die Altstadtgassen gezogen, um etwaige Verfolger abzuschütteln, und hatte sich in einem Kino an der Mühlenbrücke einen Film mit dem Titel »Jadeblüten« angesehen, vor lauter Müdigkeit aber den Handlungsfaden im Beziehungsgeflecht der überwiegend weiblichen Darsteller verloren. Um halb elf hatte er den Zug bestiegen und war kurz nach Mitternacht im Dania-Hotel im Hafen von Puttgarden abgestiegen.
– 85 Euro die Nacht, mit Blick auf den Fährbahnhof.
– Na also, sagte Myrbäck aufmunternd. Es geht doch. Dir haben die Schläge auf den Kopf gutgetan.
Holzapfel griente. Er lag platt vor dem Kleiderschrank. Sein Kopf glühte in Rubinrot. Er riecht säuerlich, das ist der Angstschweiß, dachte Myrbäck, vielleicht ist es auch mein eigener.
– Am nächsten Tag hab ich dich angerufen und bin dann an Bord der Fähre. Könntest du mir jetzt meine Brille wiedergeben?
– Zwei Dinge noch. Warum hast du das gelbe Kleid an dich gerafft?
Holzapfel zögerte mit einer Antwort. Dann sagte er:
– Was umsonst ist, lass ich nicht liegen.
– Was hast du mit der Taucherbrille gemacht? Mit den Schwimmflossen?
– Ich habe sie hinter eine Wandverschalung auf dem Parkdeck der Fähre geschoben. Die fahren immer noch über die Ostsee. Schuhgröße 49 passt mir nicht.
– 49? Wer hat solche Füße?
Myrbäck lockerte seinen Würgegriff und richtete sich langsam auf. Holzapfel würde nicht auf sofortige Rache sinnen, nicht zu einem Gegenschlag ausholen, ohne Brille war er doch hilflos. Er war besiegt, Satz um Satz war aus ihm herausgebrochen, was Myrbäck unter Vorbehalt als die Wahrheit nahm.
– Wir sprechen uns noch. Er stand auf, um sich die Anspannung aus seinen Armmuskeln zu schütteln. Entscheidendes hatte er Holzapfel noch nicht abgerungen, und seine Wut war noch nicht verpufft. Mit Genugtuung sah er dabei zu, wie Jan auf dem Teppichboden nach seiner Brille tastete.
Erneut überschwemmte ihn Wut. Die Wut auf ihn selbst. Er hatte eine Kiste gestohlen, von der ein ebenso nichts ahnender Jan Holzapfel annahm, sie würde ihn reich machen. Eine Maschine, einen Computer, ein was überhaupt? War es nicht ein Glück, dass sie überhaupt noch am Leben waren? Hatte nicht Holzapfel Mächte herausgefordert, die sie beide hinwegfegen würden? Es war zum Heulen.
– Ich geh Spielen! Es war Eds Stimme. Sie kam aus dem Flur. Bevor Myrbäck seinem Sohn antworten konnte, hörte er das Zuschlagen der Tür.
– Was willst du mit deiner Kiste jetzt anstellen?, fragte er höhnisch. Sie auf dem Flohmarkt am Banantorget verhökern?
– Wir warten einfach ab. Bis man uns ein gutes Angebot macht. Holzapfel blinzelte ihn kurzsichtig an.
– Wer?
– Die Leute, denen das Ding gehört. Oder die, die es gern hätten. Wir warten, bis eine Anfrage kommt.
– Wie stellst du dir das vor, verdammt? Schönen guten Tag, danke für das Geld, und alle wedeln zufrieden mit dem Schwanz? Wer soll uns überhaupt ein Angebot machen, wenn niemand weiß, wo wir sind, du Schlaumeier?
– Früher oder später werden sie uns finden. Müde rieb Holzapfel sich die Augen. Myrbäck fischte seine Brille unter dem Kleiderschrank hervor und drückte sie dem nahezu Blinden in die Hand.
Früher oder später. Früher oder später würden sie alle im Verderben enden. Aber wahrscheinlich hatte Jan Recht. Jene, denen sie die Kiste abgenommen hatten, waren schnell gewesen. Keine zwei Stunden nachdem er den Q7 gestohlen hatte, waren sie vor Holzapfels Wohnung auf ihn gestoßen. Sie hatten ihn an den Ziegelmauern des Fleischgroßmarktes entlanggehetzt, unter Bahngleisen hindurch, hinein in eine Baugrube. Tags darauf war dann Raschke von ihnen in die Luft gejagt worden, oder? Hatten sie Stanczaks Finger amputiert? Waren sie in seine Wohnung eingebrochen und hatten in Marias Wäsche gewühlt? Hatte er ihnen auf dem Autodeck der »Prinsesse Benedikte« in die Augen geblickt?
Während er sich mit Fragen quälte, war Holzapfel ins Bad entflohen, um sich vor dem Spiegel über das Ausmaß der aufblühenden Schwellung oberhalb seines Ohres zu vergewissern. Wir beide sammeln Beulen, sagte sich Myrbäck,
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