Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
einem Café neben ihnen saß. Sie zahlten, standen auf, gingen zu ihrem Wagen, öffneten ihn, und ich habe die Verschlüsselungsstrings aufgefangen. Eine Vierzig-Bit-Codesequenz. Nichts Besonderes.
Nichts Besonderes, dachte Myrbäck erschüttert. Aber endlich mal plausibel. Holzapfel drückt sich tagelang um den Q7 herum, beschattet seine Fahrer und stellt sich so dämlich dabei an, dass er entdeckt wird. Die Besitzer des Autos beschatten nun ihrerseits den ahnungslosen Holzapfel.
– Und dann?
– Tja, dann. Rief mich Stanczak an und warnte mich. Wir sind aufgeflogen, fahr für ein paar Tage weg, aber mach schnell. Er klang aufgeregt. Du weißt, wie er dann ist. Er zischt beim Sprechen. Deshalb habe ich auf ihn gehört.
– Und in der Eile vergessen, mich zu warnen. Weshalb ich beinah in einer Baugrube verreckt bin.
– Ja. Und hier bin ich jetzt. Hinter Jans Brille blitzte ein der Schuld abgerungenes Lächeln auf.
– Nein, Holzapfel. Hier sind WIR jetzt. WIR. Er ließ ein wuchtiges Schweigen folgen. Dann fragte er mit Nachdruck:
– Wer ist warum hinter UNS her?
Holzapfels Schultern zuckten.
– Wieso bist du ausgerechnet zu deiner Schwester geflüchtet? So langsam gingen ihm die Fragewörter aus.
– Ich kenne sonst niemanden, der so weit weg wohnt, antwortete Holzapfel. Er legte sich auf seine Matratze und verschränkte die Arme unterm Kopf. Die Geste der mit sich Zufriedenen.
Das Bier hatte Jans Lebensgeister geweckt, ihn selbst aber bloß ermüdet. Er begann zu frösteln. Er schloss das Fenster und kletterte in sein zu kurz geschreinertes Bett zurück. Dort, unter Daunenfedern und beschallt vom säuselnden Schlafatem Holzapfels, überkam Myrbäck das Gefühl, dass seine Reise an den südlichen Rand des Stockholmer Schärengartens bloß die frühe Etappe einer lang währenden Flucht war. Dass sie in Wirklichkeit nur dazu diente, einen Absturz zu beschleunigen, der vor Ewigkeiten begonnen hatte und nun an Fahrt gewann.
N ackt stand Heidi Olofsson vor dem Spiegel, um nach weiteren Anzeichen des drohenden Verfalls zu suchen, der in der Geburtstagsnacht von ihr Besitz ergriffen hatte. Diesmal war das Glück ihr hold. Der Spiegel war kurzzeitig erblindet. Was sie durch den feinen Film an Feuchtigkeit aber betrachten konnte, war ihr Auge. Ihr blaues Auge von der Farbe feinster Blaubeermarmelade.
Sassie hat eine starke Linke, dachte sie. Der Schwinger, den sie ihr aufs Auge gesetzt hatte, war nicht beabsichtigt gewesen, sondern erwachsen in der Enge der Küche, aus der Hektik der Geburtstagsvorbereitungen. Er zeugte von überraschender Schlagkraft. Im Boxring waren solche Schwinger leicht zu kontern. Aber in der Enge einer schwedischen Standardküche? Keine Chance.
Leise, langsam zog sie den Reißverschluss von Sassies Kulturtasche auf. Nagelschere, Kajalstift, die Pille, wofür auch immer. Zwei Lippenstifte, eine Haarbürste der Marke Roger Para, sieht teuer aus. Parfüm von Comme des Garçons, klar, hat sie mitgehen lassen. Ein Stück Seife der Art, wie man sie in billigen Hotels fand. Tampons, Schmerztabletten: Alvedon und Dexofen. Zwei Effexor, wirksam bei Panikattacken, ein Psychopharmakum in weinroter Ummantelung. Zwei Dut zend blau-weißer Tabletten in einem durchsichtigen Plastikbeutel, Flurazepam, genug, um sich ins All zu schießen. Kein Wunder, dass die Frau von Woche zu Woche blasser aussah.
Zwei Semester Pharmazie, was war da bei ihr hängen geblieben? Benzodiazepine. Vertreiben Ängste, lösen Spannungen im Kopf wie in den Muskeln. Hauen einen in den Schlaf wie ein Knüppel. Bei erhöhter Dosierung: Behinderung der Spontanatmung. Paradoxe Wirkungen: Reizbarkeit, Euphorie, Erregungszustände.
Warum soll ich nicht auch mal, sagte sich Heidi. Sie entknotete den Plastikbeutel, nahm eine der Tabletten, teilte sie mit dem Fingernagel ihres Daumens, warf die eine Hälfte ins Klosett, spülte die andere mit lauwarmem Wasser in ihren Bauch hinein.
W omit hatte sie das verdient?
Fünf Fremde saßen auf Sassie Linnés Stühlen, lagen auf ihrem Bett, knabberten an ihren Salzstangen, starrten auf den Bildschirm ihres Fernsehers. Es lief eine Sendung, in der darüber debattiert wurde, ob die Leistungen berühmter Dichter und Musiker die Frucht exzellenter Erziehung seien oder blinde Würfe des Schicksals – sechsmal die Sechs? Die Moderatorin saß auf einem sehr hohen Barhocker, sie war entweder superdick oder hochschwanger, und es war Jan Holzapfel, der jene Frage stellte, die sie alle sich
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