Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
alles in Schwarz. Aber es war sinnlos, ihr zu sagen, dass die Farbe falsch war. Im Schwarz sind alle Farben enthalten, meinte sie bloß, das weißt du doch, Mama hat es uns erzählt. Aber man sieht sie nicht. Da kannst du noch so lange gucken!
Heute hat sie mit blauer und roter Knetmasse klumpige Figuren geformt, die sie Prinzessinnen nennt und in einer Reihe auf das Fensterbrett in unserem Zimmer stellt. Dann kaut sie die Knetmasse unter den Fingernägeln hervor und schluckt sie. Es muss eklig schmecken. Bald wird sich ihr Blinddarm entzünden.
Es sind Sommerferien. Eigentlich hätten Lilja und sie zu Tante Gunilla verreisen sollen, nach Ljusne, ihre Mutter hatte es ihnen fest versprochen. Jetzt waren sie zu Catrine gezogen und hatten ihre Kleider und Hörspielkassetten und Stofftiere mitgenommen.
Sie ist von Catrine zum Postamt geschickt worden. Weil die es mit ihrem dicken Bauch in der Hitze nicht mehr schafft. Nur wer ein paar Kronen im Monat bezahlte, der bekam seine Briefe und Pakete von Post-Inger auf dem Fahrrad bis an die Tür gebracht. Die Post für Catrine und Per wurde hinter dem Schal ter gesammelt und konnte ab zwei Uhr nachmittags abgeholt werden.
Da war sie jetzt. Post-Inger stand hinter dem Schalter und gab ihr einen Brief. Auf ihm klebte eine blaue Briefmarke mit einer Gans, die einen Jungen auf ihrem Rücken trug. Sie flogen über Bergrücken und ein Flusstal. Ich kenne euch, dachte sie sofort, Gänserich Martin und Nils Holgersson, der seinen Eltern nur Kummer macht, weil er faul ist.
Sie hat noch nie in ihrem Leben einen Brief bekommen, ganz bestimmt nicht. Als sie nach Christiania gezogen waren, gab es in ihrem Haus nicht einmal Strom, und das Wasser mussten sie aus einer Pumpe am Loppen holen. Abends saßen sie bei Kerzenlicht und einer Petroleumlampe. Ihren neuen Mitschülern hatte sie davon nicht erzählt. Die machten sich lustig über Kinder, die aus Christiania kamen. Hippiehascher, Haschischnascher.
Auf den Wegen von Christiania war es in den letzten Tagen voll geworden. Überall standen plötzlich bunte alte Autos herum und versperrten einem den Weg. Vor dem Haupttor hielten sogar Reisebusse. Die Leute, die ausstiegen, trugen kurze Hosen mit dicken Ledergürteln und ordentliche Frisuren. Sie kamen in Gruppen durch den Eingang, hielten große Kameras in ihren Händen und machten Fotos, obwohl sie das nicht durften. Wenn sie ganz mutig waren, jagten sie aus Spaß die Gänse vor sich her. Sie selbst machte um die Gänse immer einen großen Bogen. Die großen Vögel waren bösartig. Nicht hilfsbereit wie Gänserich Martin.
Unser Problem sind die Leute, die im Sommer herkommen, hat Per gestern gesagt, als Freunde zum Essen da waren. Weil sie wegen der Drogen kommen. Um sich bei uns auszutoben. Immer wieder plündert jemand eine Kollektivkasse oder bricht in einen Laden ein. Bei Helle und Jesper sind sie direkt in das Haus spaziert, haben sich umgeschaut und gefragt, wie viel Kronen denn ihre Glasvitrine kostet. Es geht echt zu weit. Einer, den sie Anarcho-Gussi nennen, sagte: Sie holen sich unser Brennholz für ihre Lagerfeuer, und wenn sie im Herbst in ihre Etagenwohnungen mit den Zentralheizungen zurückkehren, finden wir nichts mehr zum Heizen. Ihr war eingefallen, dass ihre Mutter sich im Winter heimlich Birkenholz von der Holzsammelstelle am Mælkebøtten geholt hatte. Immer nur zwei, drei Scheite auf einmal, aber trotzdem.
Am meisten regten sich alle darüber auf, dass im Hochsommer zu wenig Platz zum Schlafen in Christiania ist. Stinne mit der hohen Stimme sagte: Wir können ungefähr hundert Leute bei uns unterbringen, aber sie kommen zu Tausenden und hauen sich irgendwohin.
Das ist wahr, dachte sie. Wenn sie morgens vor das Haus trat, sah sie unter den Weiden immer Frauen und Männer in Schlafsäcken herumliegen, manchmal auch auf der alten Autositzbank, und dann wachten sie am Morgen zwischen den Flohhunden auf. Einige legten sich nachts in irgendeinen Garten, entrollten ihre Schlafsäcke und schliefen dort bis zum nächsten Mittag. Andere schliefen einfach so, in ihren Kleidern. Wenn man ihnen nah genug kam, konnte man ihren Gestank riechen.
Gleich hinter dem Eingang zum Marktplatz war jetzt immer großer Andrang. Von morgens bis abends standen die Dealer vor ihren wackeligen Stehpulten, die sie aus der alten Militärschule hierhergeschleppt hatten, und boten Haschisch an. Roter Libanese! Schwarzer aus Afghanistan! Den besten Grünen gibt es hier!, riefen sie. Und die
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