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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk van Versendaal
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Namen?
    – Ja. Er kennt euch doch, meint er.
    – Gehen wir, sagte Myrbäck.
    – Moment, sagte sie. Wie spricht der Mann mit dir? In welcher Sprache?
    – Wie zuhause, sagte er, als verstünde er ihre dumme Frage nicht.
    – Auf Deutsch?
    – Ja, wie denn sonst? Und am Ende hat er mir auf die Nase gehauen.

I ndianische Höhlenzeichnungen sahen so aus. Feine hellrote Linien auf blasser Haut, Flusslandschaften aus weiß gestricheltem Narbengewebe über bläulich schimmernden Venen, winzige Erhebungen, wenn man sanft über sie hinwegstrich.
    Heidi Olofsson ließ den Arm des Jungen fallen. Sie versuchte, ihn anzulächeln, spürte aber sofort, dass ihr Versuch durchschaut wurde. Er sah sie trotzig an. Johan, rotblondes Haar, und der Ernst passte nicht zwischen seine Sommersprossen.
    – Zählst du deine Wunden?, fragte sie.
    – Manchmal.
    – Was denkst du dann?
    – Weiß nicht.
    – Du hast dich gestern geschnitten? Warum?
    – Weiß nicht. Ich muss Englisch schreiben. Ich muss zum Handball. Muss mit meiner Mutter reden. Muss bei dir sitzen.
    – Und?
    – Immer ist was.
    Vor einer Woche war der Fünfzehnjährige in ihrem Zimmer aufgetaucht, geschickt vom Sportlehrer. Er saß vor ihr, krallte sich mit beiden Händen in die Armlehnen und ließ nicht mehr los. Wie in der Achterbahn, von der Schwerkraft in den Sitz gepresst. Als sie ihn hinausschicken wollte, stand er auf, zog sich aus. Dann: die Beine und Arme voller Schnitte, seine Haut ein Mosaik vernarbter Wunden. Strichcodes auf Supermarktwaren sahen so aus. Sollte ausgerechnet Heidi Olofsson da helfen können? Mit dem Scanner vielleicht?
    – Führst du ein Tagebuch?
    – Nein, wieso?
    – Versuch es mal. Du kannst aufschreiben, wie es dir geht, wenn du dich schneidest. Vielleicht erfährst du dann etwas über dich.
    Er nickte matt.
    – Hast du dir deine Schmerzen verdient?
    – Kann sein.
    – Du schneidest dich, wenn du wütend bist?
    – Was denn sonst? Johan zuckte die Schultern. Nein, stimmt nicht.
    – Wie nun?
    Er sah sie gelangweilt an.
    Du mich auch, dachte sie. Ich komme nicht an dich heran. Will es nicht mal. Was ist los mit mir? Die Leute sagen: Heidi Olofsson ist eine gute Schulkrankenschwester. Weil sie ein Ohr für jeden hat, der ihr Büro betritt. Wenn die Leute wüssten. Sie wird Johan weiterreichen: an einen anerkannten Fachmann für Dachschäden. Eine Schulkrankenschwester ist keine Mutter, ist kein Kumpel.
    – Was ist mit deiner Mutter?
    – Was soll mit ihr sein?
    – Was sagt sie zu dir?
    – Nichts. Sie nimmt mir meine Rasierklingen weg.
    – Aber du besorgst dir neue?
    – Ja. Über sein Gesicht sprang ein Siegerlächeln.
    Als er lautlos die Tür hinter sich zuzog, stand sie von ihrem Stuhl auf und starrte vor sich hin. Viel zu lange schon arbeite ich lieber im hinteren Teil meines Büros, dachte sie, zwischen Krankenliege und Pillenschrank. Dort bin ich Unfallärztin, greife zu Pflaster, Stethoskop, Spritze, stelle eindeutige Diagnosen. Nasenbeinbrüche, gerissene Ohrläppchen, Menstruationsbeschwerden, alles kein Problem. Wer mit Kolik oder eitrigem Piercing bei mir anklopft, ist willkommen. Wer aber kommt, seine Seele vor mir auszuschütten, sollte besser verschwinden. Ich will nicht mehr so tun müssen, als begriffe ich, was in anderen vorgeht.
    Der Tag hatte vielversprechend begonnen.
    Dem Werkkundelehrer war im Vorübergehen ein Lob über ihre neue Frisur herausgerutscht. Mittags hatte sie sich mit einer Kollegin aus Huddinge in der Schulkantine getroffen. Ob sie, Heidi, Lust habe, sich um das Sommerhäuschen der Familie zu kümmern, hatte die Kinderärztin gefragt: Also nicht nur kümmern. Dort zu wohnen. Den Sommer über.
    Es war ein wunderbares, ein unerwartetes Angebot, doch durfte sie es annehmen? Sie war schon auf Lökskär gewesen. Sie kannte das Sommerhaus der Lövgrens: eine Idylle unter Obstbäumen. Dort hatte sie gesessen und ihren Neid mit einem Stück Apfelkuchen hinuntergewürgt. Auch die Lövgrens werden so ihre Probleme mit dem Leben haben, das hatte sie sich damals zum Troste gesagt.
    Sie und Pia kannten einander aus den Jahren ihrer Ausbildung. Sechs Semester an der Hochschule von Ersta, Kurse in Notfallmedizin und Pharmazie. Die Lövgrens gehören zum Stockholmer Geldadel, eine Familie von Ärzten, Kaufleuten, Juristen. Einmal hatte Pia beiläufig erwähnt, sie sei der Kronprinzessin auf dem Empfang eines Haferflocken-Unternehmens begegnet.
    Revanchieren werde ich mich nicht können, sie hat’s sofort gesagt.

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