Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Spielt keine Rolle, hat Pia geantwortet, sie ist schon froh, wenn sich mal jemand in Haus und Garten zeigt. Und wer kümmert sich um die Beete, um die Johannisbeerbüsche? Sie wird mit ihrem Mann nach Oslo ziehen, für acht Monate immerhin, im Rahmen eines Ärzteaustausches. Die Zusam menarbeit zwischen den Ärztekammern Norwegens und Schwedens hat Tradition.
Warum machte man ausgerechnet ihr, Heidi Olofsson, solch ein Angebot? Aus Mitleid mit der allein erziehenden Mutter, immer knapp bei Kasse? Natürlich. Ihr erster Impuls war es abzusagen. Sie brauchte keine Almosen. Dann aber fielen ihr Myrbäck, Sassie und ihr Bruder ein, die ganze heimische Misere, und dass ihr, wenn sie am Morgen die Gardinen zur Seite schob, nur der Blick in den dämmerigen Innenhof des Hauses blieb. Und gestern wieder? Der kleine Myrbäck hatte einen kleinen Ausflug gemacht, na und? Myrbäck tat so, als hätte der Teufel seinen Sohn gefressen. Als der Nachtisch kam, hatte sie Pia zugesagt.
Sie verstaute ihre Notizen zum Fall des schmerzensreichen Schülers Johan, als es an ihrer Tür klopfte.
Sechs Kinder standen im Flur. Sie traten zögernd in ihr Zimmer. Vier Mädchen, zwei Jungen. Achte Klasse, wusste sie.
– Na, was ist? Wie kann ich euch helfen?
Die Jugendlichen blickten sich gegenseitig an. Einer deutete mit dem Finger auf das blonde Mädchen in ihrer Mitte.
– Die will was, sagte er verlegen.
Dem Mädchen schoss das Blut zu Kopf. Die anderen grinsten.
– Ich brauch Präservative, sagte das Mädchen.
Heidi spürte, wie Hitze in ihr aufstieg. Jetzt nur nicht glühen wie eine Tomate, dachte sie. Schnell wandte sie sich um und trat zum Medizinschrank. Ziehen mich die Kinder auf? Sehen sie mir an, dass ich diese Gummis schon seit Ewigkeiten nur von Berufs wegen anfasse?
W as wird aus uns?, fragte Myrbäck.
Sie standen vor einem Bankautomaten in der Centralgatan und unternahmen den dritten Versuch, Geld mit Holzapfels Haspa-Karte zu ziehen. Sie waren von Heidi aus der Wohnung geworfen worden, für ein paar Stunden, hatte sie geblafft, Malin hat Besuch von zwei Freundinnen, wo ist da Platz für euch?
– Ja, was geschieht, wenn jeder Araber einen Jeep besitzt, jeder Ukrainer einen BMW? Myrbäcks Miene war sorgenvoll. Leugnen war sinnlos, Selbstbetrug: Da gab es eine gewisse Bedarfssättigung an gestohlenen Kraftfahrzeugen in nahöstlichen Ländern, die Zukunft der Branche wurde nicht durch die launenhafte nordafrikanische Nachfrage garantiert.
– Heul nicht, antwortete Holzapfel. Wer eine Bank überfällt, kommt nicht ohne einen Fuhrpark an gestohlenen Autos aus. Für jede größere Kreuzung eines zum Umsteigen. Das nächste, um die Spur zu verwischen. Manchmal braucht man ein Auto auch nur, um es beim Juwelier krachen zu lassen.
Myrbäck ließ die Sätze Holzapfels sacken. Er war schlechtester Laune. Schon am Morgen waren sie von Sassie zu Besorgungen in den Supermarkt entsandt worden, zur Post und für Bier in den Alkoholverkauf. Über dem tristen Vormittag lastete die Selbstanklage, den eigenen Sohn vernachlässigt, ihn in Lebensgefahr gebracht zu haben. Wer war dieser Mann, der seinen Sohn entführt und dann mit einer Cola betäubt hatte? Eines war sicher: Er war nicht hinter Ed her. Er war hinter ihnen her. Oder wie Jan es ausdrückte: Er will uns an die Eier. Seine Frau war ihm auch nicht wohler gesinnt. Der Ton ihrer Anrufe verschärfte sich. Sie drohte damit, Ed persönlich abzuholen. Oder jemanden vorbeizuschicken. Was ihm noch bedrohlicher vorkam.
Auf der Suche nach anderen Geldautomaten zogen sie in Richtung Hafen weiter und begannen ein Gespräch über einen Geschäftspartner Stanczaks. Einen Mann aus Bosnien, der mit zwei Helfern über Monate hinweg Schmuckgeschäfte rund um Hamburg ausgeraubt hatte. Das Trio hatte Gerüststangen wie Speere in die Kühler gestohlener Wagen gerammt und war dann durch das Sicherheitsglas der Schaufenster direkt in die Verkaufsräume gefahren. Zwei Minuten, länger dauerte es nie, all die Uhren und Juwelen aus den Vitrinen zu räumen. Eine Methode, von der Jan zu wissen glaubte, der Bosnier habe sie sich in einem Spielfilm über brasilianische Straßenbanden abgeguckt.
– Andere Länder, andere Sitten. Myrbäck blickte zerstreut auf die verwaisten Liegeplätze der Fischkutter.
– Ja, die tollsten Geschichten kommen immer von weit her, meinte Holzapfel, den Blick auf die schwarzgraue Dünung gerichtet. In Dubai stehen die fettesten Limousinen vor den Einkaufspassagen herum.
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