Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Halstuch. Zwei Polizisten bogen seine Arme nach hinten und schubsten ihn vor sich her. Die Polizisten brüllten ihn an, aber er reagierte nicht. Bestimmt kann er sie nicht hören, dachte sie, weil sie Visiere vor dem Gesicht haben. Die Plastikscheiben waren vom Atem beschlagen.
Sie sprang die Treppen hinunter, immer zwei Stufen auf einmal, und lief an der Rückseite der Grauen Halle entlang. Auch hier standen jetzt Polizisten, aber die ließen ein Mädchen wie sie weiterlaufen. Als sie keuchend am Garten von Catrine ankam, sah sie einen Mann im Eingang des Hauses stehen. Er hatte viel zu lange Haare, und sie standen weit von seinem Kopf ab. An seinem Aussehen erkannte sie ihn zuerst nicht, aber als er sie in seine Arme nahm, roch sie ihren Vater.
S ie träumte von einem Mann mit einer Biberfellmütze, der nicht davon abließ, sie zum Tanz aufzufordern. Um ihm aus dem Weg zu gehen, wechselte sie unaufhörlich ihre Position auf der Tanzfläche, über die ein silbrig grauer Bach plätscherte. Tänzelnd stellte er ihr nach, einmal drehte er eine Pirouette und verlor dabei fast das Gleichgewicht. Von Fluchtversuch zu Fluchtversuch kämpfte sie sich aus ihrem Traumschlaf heraus, bis sie ihren Verfolger abschütteln und sich dämmernd sagen konnte, dass sie nach Myrbäcks Abgang für ein paar Minuten eingeschlafen sei.
Achte auf deine Träume, hatte ihre Mutter ihr beigebracht. Sie flüstern dir von Dingen, die du schon weißt, aber noch nicht begreifst. Was aber sollte ihr dieser Traum erzählen? Ihr fiel ein, dass sie dem Mützenmann in Christiania begegnet war. Er hatte sie eines Abends bedrängt und ihr von seiner Unfähigkeit des Sprechens erzählt und erklärt, seine Ausdrucksmöglichkeiten lägen im Tanz. Gerade bei politischen Diskussionen könne er sich in der rhythmischen Bewegung weit spitzfindiger artikulieren als mit Worten, und das tat er dann auch mit raumgreifenden Schrittfolgen und wedelnden Armen im Mittelgang der Grauen Halle. Sie rechnete nach: Beinah zehn Jahre waren seit ihrer letzten Reise nach Christiania vergangen.
Klopfen an der Wohnungstür, einmal, zweimal, dreimal. Sie erhob sich ächzend vom Bett, rückte Hose und Bluse zurecht und öffnete. Das Neonlicht des Treppenhausflurs blendete sie. Nach Luft schnappend, blass stand Myrbäck vor ihr. Sein Atem roch nach Zimt. Ohne ein Wort der Begrüßung drängte er sie in die Wohnung.
Jetzt hat er es aber sehr eilig, dachte sie. Sie erwog noch, ob sie auf seinen Ansturm mit milder Empörung reagieren sollte, da eilte er schon an ihr vorbei in sein Zimmer. Im Gehen brüllte er:
– Wo ist Holzapfel? Ich muss ihn sprechen. Ich muss, ich muss, ich muss!
– Was ist los?
– Sie haben uns, sagte er hastig. Das ist los. Wir sind entdeckt worden. Wir müssen abhauen.
– Sie haben euch? Wer?
Sie stand hinter ihm, als er seinen Koffer unter dem Bett hervorzog, ihn aufriss und mit kreisenden Bewegungen T-Shirts, Hemden, Hosen vom Bett hineinschaufelte.
– Du hast gerade erst ausgepackt, sagte sie. Wohin willst du?
– Keine Ahnung, murmelte Myrbäck. Wo stecken Heidi und Malin?
– Beim Handball. Wie jeden Freitag. Malins Training.
Zerstreut sah er zu ihr auf.
Es klingelte. Beide erstarrten und lauschten. Myrbäck verharrte in der Bewegung. Sassie ging in den Flur und sah durch den Türspion: Holzapfel.
Sie öffnete. Während Myrbäck auf Jan zustürmte, ging sie in die Küche und hob die Werkzeugkiste vom Boden der Besenkammer. Sie hörte, wie nebenan die beiden Männer mit unterdrückten Stimmen stritten. Es waren nur Wortfetzen, die sie aufschnappte: Idiot. Verrat. Kiste.
Sie griff zu Schraubenzieher und Zange, setzte sich auf den Hocker am Fenster, zog ihr linkes Bein an und stemmte die Fassung der dritten Schraube ihres Fußbandes auf.
Holzapfel huschte in die Küche. Hektisch riss er ein paar Plastiktüten aus dem Schrank unter der Spüle und lief wieder hinaus.
– Endlich mal was los bei uns Langweilern, rief sie hinter ihm her. Es war höchste Zeit: Endlich brachten die beiden Abwechslung in ihr eintöniges Leben. Was an Leihfilmen aus der Tankstelle sehenswert war, hatte sie sich längst angesehen.
Die letzte Plombe ihres Fußbandes barst mit einem Klacken. In der nächsten Sekunde gab die Empfangsstation unter der Garderobe ein alarmiertes Schrillen von sich. Von ihrem Platz auf dem Küchenhocker sah sie, wie das rote Signallämpchen des Monitors das Arrangement aus Mänteln, Schals und Jacken im Sekundentakt illuminierte.
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