Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Was ist los? Sie hörte Myrbäck und Holzapfel aufgeregt durch den Flur brüllen.
Sie schwieg. Die dünne Haut oberhalb ihres Knöchels juckte. Sie strich mit den Fingerspitzen über die geröteten Schwellungen, Druckstellen des Plastikbandes, das fünf Wochen lang an dieser Stelle gesessen hatte, ein Teil ihrer selbst. Jetzt lag es zerbrochen, besiegt vor ihr auf dem Tisch. Ein Schmutzstreifen hatte sich in seiner Innenseite abgelagert, ein Sediment aus Schweiß, Staub und ihrer Haut.
– Was hast du getan? Myrbäck stand plötzlich vor ihr, hektische rote Flecken im Gesicht.
– Siehst du doch, meinte sie. Sie streckte ihm ihr nacktes Bein entgegen.
– Ich türme. Mit euch.
– Hättest du nicht abwarten können? Ein paar Tage nur?
Bevor sie antwortete, klingelte das Telefon.
Da war er ja schon, der Anruf für die Klientin des offenen Strafvollzugs. Die sich in die Freiheit verabschiedet. In Nyköping wird zur Jagd geblasen. Sie blieb auf ihrem Hocker sitzen.
Als das Telefon verstummte, durchfuhr sie eine fabelhafte Ruhe. Wärme legte sich über sie wie ein Badetuch am Ende eines endlosen sonnenglänzenden Tages. Sie wusste, dass dieses Gefühl nichts Gutes bedeuten mochte. Sie stand auf, ging schnurstracks ins Bad, schluckte eine ihrer blau-weißen Tabletten und suchte Handtuch, Shampoo, Tampons, Zahnputzzeug zusammen.
Es klingelte.
Von Myrbäck und Holzapfel war kein Mucks zu hören, keine Bewegung zu sehen. Ängstlich wie die Kaninchen, dachte sie. Sie schlich zur Wohnungstür und schob ihr Auge vor das Guckloch.
Im Treppenhaus stand eine Frau. Mittelgroß, glatte schwarze Haare. Sie war nicht alleine gekommen, der Arm eines kamelhaarbraunen Mantels ragte in Sassies konkav verzerrtes Gesichtsfeld. Ein riesiger Arm. Sie staunte. So schnell hatte sie die Beamten vom Strafvollzug nicht erwartet, schon gar nicht als gemischtes Doppel. Wie hatten die es in zwei Minuten von der Polizeiwache bis hierher geschafft? Auf einer Rakete? Sie glaubte zu spüren, wie sich in diesem Moment auf der anderen Seite der Tür ein lauschendes Ohr an das Holz presste. Sie hielt den Atem an.
Hinter ihr schlich sich Myrbäck an. Mit der einen Hand hielt er seine Reisetasche, mit der anderen kratzte er seine Kopfhaut. Er sah sie an wie jemand, der auf den Bahnsteig rennt und feststellt, dass sein Zug ohne ihn abgefahren ist. Nun suchte er kopflos einen Schaffner, der ihm sagte, wie seine Reise weitergeht.
– Wer ist da?, flüsterte er.
– Eine Frau und ein Mann.
– Scheiß … schwarze Haare?
– Nein, nur schwarze Haare. Die Frau. Den Mann sieht man nicht.
Myrbäck sah verzweifelt aus. Wieder mal.
– Wo geht’s hier raus? Auch Holzapfel stand plötzlich im Flur. Durch seine Frage rauschte die Panik. Er zog seinen Rollkoffer über den Teppich, sein restliches Hab und Gut hatte er in zwei Plastiktüten gequetscht.
Es klingelte wieder.
– Springen wir aus dem Fenster, oder was? Holzapfel stülpte sich die Wollmütze über die Ohren. Er war bereit zur Flucht.
– Wir schwingen uns vom Balkon, antwortete Sassie. Kommt!
Die Männer reagierten nicht. Sie glaubten ihr kein Wort. Sie sahen sie nicht einmal an.
– Wo ist unsere Kiste?, platzte es zischend aus Holzapfel heraus.
Jan hat irre Augen bekommen, dachte Sassie … Beinah verdreht sahen sie aus. Vielleicht täuschten das aber auch seine Brillengläser nur vor.
– In Sicherheit, antwortete Myrbäck ihm. Ein paar Sekunden lang musterten sich die Männer. Beiden sickerte der Schweiß von der Stirn.
Sie ließ die zwei stehen, ging in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie packte, was in die militärgrüne Schultertasche passte, die sie an Freitagen immer zum Einkaufen benutzte. Ich besitze wenig, dachte sie zufrieden. Sie zog ihren Anorak an und stieg in ihre Turnschuhe. Als sie in den Flur trat, hörte sie ein Knirschen im Rahmen der Wohnungstür. Es klang, als schraube sich ein Bohrer in das Holz. Myrbäck und Holzapfel hatten sich nicht vom Fleck gerührt. Schreckstarr lauschten sie dem Bohrgeräusch.
Myrbäck riss sich als Erster aus seiner Lähmung. Er sprang auf Zehenspitzen in Heidis Zimmer und kehrte mit einer Plastikschüssel voll silberner Bälle zurück. Es waren die Stinkbomben, die beide Männer für Ed und Malin gebastelt hatten. Jene, die Heidi in Beschlag genommen hatte.
– Was willst du mit denen?, fragte Sassie.
Während Knut die Schüssel zwischen Eingangstür und Garderobe ablegte, ging Holzapfel in die Knie und öffnete eine
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