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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk van Versendaal
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Lieblingsstück. Vielleicht gefiel Holzapfel sich in diesem proletenhaften Monteursanzug, rätselte sie, weil er ihm etwas Draufgängerhaftes verlieh, den Anschein von Tatenkraft. Obwohl sie nicht glaubte, dass er zu Gewalttätigkeiten neigte, fragte sie sich manchmal, ob er in betrunkenem Zustand gefährlich werden könnte. Das aber fragte sie sich bei jedem Mann.
    – Hej. Eine Stimme rief nach ihr. Vor Schreck schlug sie einen der kleinen Kaktustöpfe von der Fensterbank.
    – Du?
    Knut Giovanni Myrbäck stand im Zimmer und strahlte sie an. Etwas verstohlen überreichte er ihr eine Tafel Schokolade und eine Flasche Campari.
    – Hier, von der Fähre, sagte er beiläufig. Bald kannst du es knallen lassen.
    – Noch elf Tage.
    Er umarmte sie kurz, trug den Koffer in sein Zimmer, räumte ihn aus und ging duschen.
    Als er aus dem Badezimmer kam, trug er Jeans, ein weißes Hemd mit altmodisch hohem Kragen und ein Jackett, das sie an ihm noch nicht gesehen hatte. Er hat seine Garderobe in Hamburg neu bestückt, dachte sie. Sieht nicht so aus, als wolle er demnächst seine Zelte in Schweden abbrechen.
    – Hast du dich verletzt?, fragte sie, während er quer durch die Küche zum Tisch ging. Sie deutete auf sein Bein.
    – Was? Seine Stimme klang beunruhigt.
    – Ich habe dich gefragt, ob du dir wehgetan hast. Am Bein. Du bewegst dich, als hättest du Schmerzen.
    – Ich habe mal einen Unfall gehabt, sagte er. Das ist lange her.
    – Auto? Moped? Fußball?
    – Nein, Hühnerstall. Er schilderte ihr den Sturz aus drei Metern Höhe, mit dem Hintern voran, eine Beinlängendifferenz, tausende von Stunden, die er seither mit gymnastischen Übungen verbracht hatte.
    – Ein bisschen schief hat Gott lieb, sagte sie, als es ihr zu viel wurde mit seinen Schilderungen von Halsbeugungen seitwärts.
    – Hat schon mein Vater zu mir gesagt. Eines Tages werde ich es glauben.
    Sie dachte darüber nach, wie es wäre, wenn er und sie nicht vom Schicksal am gleichen Ort zusammengewürfelt worden wären. Da war etwas Anziehendes an ihm, etwas gleichzeitig Eifriges und Unbeholfenes. Sie versuchte sich vorzustellen, wie er wohl nackt aussähe. Ein kleiner Bauch?
    – Bist du hungrig, willst du was trinken?, fragte sie ihn. Die anderen sind unten beim Fest. Es gibt Grillwürste, Lachsbrötchen, Glühwein.
    – Mag ich nicht, sagte er.
    Sie lehnte sich gegen die Geschirrspülmaschine. Ihr Becken fing das leichte Vibrieren der Maschine auf. Als diese laut gurgelnd mit dem Abpumpen des Wassers begann, gingen sie in ihr Zimmer.
    Sie legte sich auf ihr Bett. Myrbäck warf sich in einen Sessel beim Fernseher, kreuzte die Arme und erzählte von seiner Reise nach Hamburg. Von Ed, der glücklich in die Arme seiner Mutter gesprungen war. Von einem Ex-Kollegen, mit dem er monatelang die Straßen Hamburgs vermessen hatte und der ihn demnächst mal in Schweden besuchen wolle, mein Gott, bloß nicht, ich hoffe, der Kerl labert nur. Von seiner Frau Maria und einem fürchterlichen Streit, von Zornesgewittern, die sich regelmäßig zwischen ihnen entluden, die Luft aber längst nicht mehr aufklarten. Seine Worte klangen mutlos.
    Myrbäcks rote Augenlider sahen entzündet aus. Kein Wunder, er hatte fünfzehn Stunden am Stück im Reisebus gesessen. Mit dem Bus reist es sich besser als mit dem Billigflieger, hatte er gemeint, am Flughafen sind immer ein paar Wichtigtuer, die plötzlich deinen Pass sehen wollen. Ihr fiel auf, dass er, während er sprach, sich ständig bewegte. So als sei er unentschlossen, welche Position sein Körper einnehmen sollte, so als würde er all seine Muskeln in regelmäßigen Abständen einmal ausprobieren müssen.
    – Ed will jetzt natürlich auch ein Kaninchen haben. Soll seine Mutter sich mit den Viechern abkämpfen, sagte er. Dann war er still. Seine Haare glänzten feucht im letzten Licht des Tages, das trübe durch das Fenster drang. Der Raum hinter ihm war längst finster.
    Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Geräusche: die Uhr an der Wand, das Rasseln eines Heizkörpers, das Rauschen des Abflussrohres aus der Nebenwohnung. Das Schreien der Kinder von draußen, die Musik.
    – Ich gehe noch mal auf das Fest, sagte er in das Schweigen.
    – Nimm bitte den Müll mit, sagte sie, als er sich an ihrem Bett vorbeizwängte.
    Was sie aber dachte, war: Worauf wartest du, Myrbäck?

W orauf warte ich? Dieser Mann da im Fahrstuhlspiegel, der mit dem von Monat zu Monat fahleren Gesicht, den Bartstoppeln, den zerrauften

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