Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
keine abgerissene Hand war, die sie da eben gesehen hatte. Sondern bloß einer der vielen Winterhandschuhe, die durch die Wucht einer Explosion aus seinem lauschigen Plätzchen in der Garderobe mitten hinein in das Chaos katapultiert worden war.
III
M it den Armen wedelnd gab sie Holzapfel zu verstehen, er solle das Tempo drosseln. Sie rief ihm zu, sie schlug mit der Hand auf die Reling. Er hörte sie nicht, wusste ihre Gesten nicht zu deuten. Seit sie den Rånögrund hinter sich gelassen hatten, war die Dünung stärker geworden, und auf alle größeren Wellen hatte er mit einem Durchdrücken des Gashebels geantwortet. Wann immer das Boot zwischen zwei Wellenkämmen aufschlug, sprühte Gischt über den Bug hinweg. Eiskalte Tropfen trafen ihr Gesicht.
Die vergangenen Tage waren mild und sonnig gewesen. Manche Nachmittage hatte sie im Liegestuhl vor der Häuserwand verbracht und den Bachstelzen dabei zugesehen, wie sie auf einem Streifen frisch gemähten Grases nach Würmern und Käfern suchten. Es waren die frühen Morgenstunden, die den Winter noch in sich trugen. In der letzten Nacht hatten Sturmböen den Dachgiebel durchgerüttelt und Winterasche durch den Ofen in ihr Zimmer gepustet. Die Möwen, deren Geschrei sie sonst mit dem ersten Tageslicht weckte, hatten kein Krächzen gewagt.
Ein Windstoß fuhr ihr unter die Wolljacke. Sie schlug den Kragen hoch und drehte sich gegen die Fahrtrichtung. In den Stoffschuhen wurden ihr die Füße kalt. Sie schob sie unter Myrbäcks Seesack. Er war aus dickem Segeltuch, und in seiner Mitte perlten sich feine Wassertropfen zu einer Pfütze weg.
Die beiden Männer saßen achtern auf der Steuerbank und kniffen ihre Augen im Fahrtwind zusammen. Zwischen ih ren beiden Köpfen sah sie die wirbelnden Schaumkronen, die der Außenbordmotor aufkochte, den aufschwellenden Heckschweif, die kleiner werdende Küstenlinie von Lökskär.
Sie näherten sich einer Inselgruppe. Über den Esstisch gebeugt hatten sie sich tagelang die Generalstabskarten nach geeigneten Anlegestellen durchgesehen. Die Papierlandschaften aus grünen, gelben und braunen Nuancen zu deuten gesucht, die Äcker und Buchten im Maßstab eins zu fünfzigtausend, die Siedlungen, und jedes Haus ein schwarzer Punkt. Jetzt kam ihr Lilla Aspholmen viel zu klein und niedrig vor, eine Insel, die kaum mehr war als ein Fels in der Ostsee.
Knirschend rieb sich der Metallrumpf des Bootes auf dem Sand und trieb ein Stück aufs Land hinauf. Mit einem Mal war es windstill. Mit steifen Beinen sprang sie vom Boot. Der Sand unter ihren Füßen war noch schwer vom gestrigen Regen. An einem der krumm gewachsenen Kiefernstämme oberhalb der Uferlinie machte sie das Boot fest.
Sie nahmen einen Pfad, der durch Blaubeergestrüpp führte und über einen Steinbuckel, der von Seeschwalben geweißt war. Trockene Zapfen zerbrachen unter ihren Füßen. Holzapfel schritt vorweg, so als wäre er auf Lilla Aspholmen zuhause. Er steckte in einer schwarzen Windjacke, die an ihrem Rücken einen dreieckigen Riss hatte.
Als sie den höchsten Felsenkamm der Insel erstiegen hatten, blickten sie auf eine Lichtung, die sich zum Westen der Insel hin öffnete. Das Haus duckte sich an den Rand einer Granitkuppe. Von See aus war es nicht zu sehen.
– Antenne, meinte Myrbäck. Sie stand so dicht neben ihm, dass sie sein Atmen hörte.
Sie nickte. Antenne war gut. Antenne, das ließ auf Fernseher und DVD-Player hoffen, vielleicht auf einen Vorrat an billigen Weinen in einer Abstellkammer voller Mäusefallen. Parabolantennen waren besser. Sie trugen das Versprechen von Flachbildschirmen, Einbauküche, schottischem Whisky. In den letzten Tagen hatte sie dazugelernt.
Sie stiegen von der Anhöhe hinab. Im Schutz eines mannshohen Brennholzstapels blieben sie stehen. Jemand hatte die Scheite auf die gleiche Länge gesägt und penibel übereinandergeschichtet. Kinderfahrräder lagen achtlos im farblosen Gras. Ein blaues Trampolin stand vor dem Haus wie ein Riesenpilz.
Die Fenster waren mit hölzernen Läden verschlossen, die Tür zusätzlich mit einer Eisenstange verbarrikadiert worden. Mit einem Bolzenschneider aus seinem Seesack durchtrennte Myrbäck den Bügel des Vorhängeschlosses. Ein einziges kräftiges Drücken der Zangenarme reichte.
Das Erdgeschoss des Hauses bestand aus einem Raum. Die Decke wurde von massiven Holzstämmen gehalten, auf dem Fußboden war matt gebeiztes Birkenparkett ausgelegt worden. Über ein schmiedeeisernes Geländer führte der Weg
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