Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
im Treppenhaus aufgesammelt, ihre Mitbewohner das Weite gesucht. Die Scheibe der Balkontüre war in einem Stück aus ihrem Rahmen geplatzt, der Käfig der Kaninchen umgestürzt und aufgebrochen, und die zitternden Tiere sprangen wie aufgezogen durch das Wohnzimmer, kreuz und quer zwischen den schweren Stiefeln der Feuerwehrmänner. Eine Polizistin hatte sie nach möglichen Ursachen für die Geschehnisse in und direkt vor ihrer Wohnung befragt. Sie hatte der Frau mit den Zöpfen nicht helfen wollen und bloß übertrieben mit den Schultern gezuckt. Ähnlich hatte sie geantwortet, als tags darauf zwei Herren von der Justizbehörde eintrafen, um ein Wörtchen mit Frau Sassie Annamarie Linné zu sprechen.
Wochen waren seither vergangen, doch die Nachbarn zerrissen sich immer noch die Münder. Und wem schieben sie das vorzeitige Ende ihres Siedlungsfestes in die Schuhe? Mir. Dabei war es ein poröser Schlauch gewesen, ein Propangasleck, amtlich festgestellt, der zur Explosion der Crêperie Paris geführt hatte. Klar, dass wieder mal ich meinen Arsch hinhalten muss für andere.
Nun auch noch dies: Sämtliche Dachbodenräume des Hauses waren aufgebrochen und durchsucht worden, am helllichten Tag. Ein blonder Hüne sei ihr auf dem Speicher entgegengetreten, habe sie wortlos beiseitegeschoben und war dann in Seelenruhe über die Treppe verschwunden. Die Nachbarin, die den Fremden überrascht hatte, war weit über siebzig, keine Bedrohung für den Eindringling. Für nächste Woche war eine Mieterversammlung anberaumt worden. Auf der man sie mit anklagenden Blicken quälen würde, jede Wette.
Sie fuhren an einem Sägewerk vorbei, in hohen Stapeln lagen verzogene und ausgeblichene Bretter zwischen den Granitfelsen. Sie hatten den Winter über draußen gelegen. In der Höhe von Alvsta wich der Bus einem Trupp von Reiterinnen aus, die aus einem Feldweg geritten kamen. Sie rutschte gegen den Kaninchenkäfig und blickte im Vorüberfahren in die erschrockenen Gesichter junger Mädchen.
Zwei Sitzreihen schräg vor ihr saß ein Mann mit hellem, schütterem Haar. Er trug eine schwarze Cordhose und bunte Turnschuhe, auf die er in seinem Alter besser verzichtet hätte. In Nynäshamn war er mit ihr in den Bus gestiegen, und ihr waren die harten Falten in seinem Gesicht aufgefallen, bittere Mundschwünge, und sie hatte sich gedacht: kein schöner Mann. Allerdings war sein Lächeln, mit dem er der Chauffeurin dann seine Fahrkarte reichte, freundlich gewesen. Einnehmend auf eine altmodische Weise.
Von schräg hinten sah sie, wie seine Augenlider zuckten. Vielleicht vor Müdigkeit, vielleicht vor Anspannung. Ab und an blickte er kurz zu ihr und dann neugierig auf den Käfig, in dem die Kaninchen saßen. Sie wartete darauf, dass er sie ansprechen würde. Nichts macht die Leute redelustiger als Haustiere in einem Bus.
Sie wusste nicht, was sie erwarten würde im Sommerhaus der Kollegin Pia Lövgren. Sie hatte die drei Fliehenden in ihr Exil auf Lökskär geschickt. Seither hatte sie ein paar Mal mit Sassie telefoniert, auch mit dem Bruder gesprochen. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt noch kannte. Was wusste sie schon von ihm außer einer Handvoll amüsanter Anekdoten, deren Nuancen sich mit jeder Erzählung veränderten?
Und was hatte Jan sich dabei gedacht, einen dicken Stapel von Papieren unter dem Küchenschrank in ihrer Wohnung zu verstecken? Er hatte sich die Mühe gemacht, die untere Leiste der Verkleidung abzustemmen und wieder anzukleben. Nicht ahnend, dass der Spülmaschinenschlauch lecken würde; als es nach Schimmel zu stinken begann, hatte sie die Holzplatte herausgebrochen und die Plastiktüte entdeckt. Mit Zeitungsausrissen und Computerausdrucken, Dutzende von Seiten. Manches war in Englisch, das meiste in Deutsch verfasst, ei nige Zettel steckten in Umschlägen.
Sie nahm ihren Rucksack und zog ein Bündel von Papieren heraus. Flüchtig blätterte sie sich durch Artikel, die in Zeitschriften erschienen waren, von denen sie noch nie gehört hatte. In »Aviation« las sie über einen VW Passat, der bei Tempo 40 zwei abgesperrte Straßenblöcke abgefahren hatte, ohne Fahrer. Sie durchblätterte einen abgewetzten Prospekt der Elektronikmesse CES und überflog einen Artikel im »IEEE Spectrum«, der sich mit einer Technik namens Litar befasste, dem Light Detection and Ranging System, das die Welt mit 64 Laserstrahlern gleichzeitig abtastete, mit 900 Drehungen pro Minute, und verlor darüber jegliche Lust
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