Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
sprang sie aus dem Bett, stürzte in den Flur und die Treppe hinunter. Sie fand die beiden Männer vor einem Geräteschuppen an der Längsseite des Hauses. Halbherzig half sie den Männern, das Diebesgut auf zwei Schubkarren zu verladen.
Es war mühselig, die Karren über die von Wurzeln durchzogenen Wege zu ziehen. An manchen Stellen mussten sie zu dritt anpacken.
Als sie den Strand erreichten, flogen zwei Möwen mit trägen Flügelschlägen auf und zogen krächzend Runden über ihren Köpfen. Jan und Knut hievten den Fernseher zu zweit über die Bordwand. Am Ende legten sie die Stehlampe quer durch das Boot. Wie eine schäbige Galionsfigur ragte sie ein gutes Stück über die Reling hinaus.
Myrbäck stand am Bug und sah ihr dabei zu, wie sie die Bootsleine löste und sie sorgfältig zusammenlegte. Sie ging langsam zur Uferlinie und setzte sich unterhalb eines schmalen Streifens aus feinem Muschelsplitt in den Sand. Sie zog ihre Schuhe aus und krempelte ihre Hose bis zu den Knien hoch. Barfuß trat sie ins Wasser und betrachtete ihre bleichen Füße.
Als kleines Mädchen hatte sie einen ganzen Sommer lang Strümpfe am Strand getragen. Nackt, völlig ungeniert war sie zwischen den Badenden umhergelaufen, aber in Strümpfen: Eine Sechsjährige, die ihre Füße und Zehen als das hässlichste Werk der Schöpfung ausmacht. Schön fand sie ihre Füße auch heute noch nicht, aber sie hatte Hunderte gesehen, die weniger ansehnlich waren.
Das Boot war lautlos in ihr Blickfeld gezogen.
Es hatte einen hellblauen Rumpf und eine knallrote Wasserlinie. Sie erkannte zwei Figuren, einen Mann und eine Frau, ihre im Wind flatternden Haare. Der Mann winkte ihnen zu. Oder kam ihr das nur so vor? Unschlüssig hob sie den Arm und antwortete mit einer halben Bewegung. Das konnte als Antwort gelten, sagte sie sich, als Gruß, musste aber nicht.
Waren es Nachbarn? Die sie verwechselten mit den Bewohnern des Hauses, das sie gerade ausgeräumt hatten? Einsame Inseln, dachte sie, das gibt es im Schärengarten vor Stockholm nicht wirklich. Mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen bevölkert sich der Archipel mit Bootsbesitzern und Vogelkundlern, ihnen folgen die Badenden, die Ausflügler.
Langsam zog das Boot auf seiner Linie voran. Es hatte einen stärkeren Motor, und vor ihm entkommen zu wollen, wäre wohl ein sinnloses Unterfangen.
Holzapfel und Myrbäck bekamen nicht mit, was da am Horizont entlangzog und langsam kleiner wurde. Sie knieten im Bug und waren beschäftigt damit, Elektrogeräte stoßsicher zu verstauen.
Das kalte Wasser begann an ihren Füßen zu brennen. Trotzdem blieb sie noch eine Weile in der seichten Brandung stehen, bevor sie durch das Wasser zum Boot schritt. Manche der Steine, über die sie trat, waren rutschig. Auf einmal dachte sie, dass sie glücklich sei. Es war noch nicht einmal neun Uhr, doch die Morgensonne wärmte, und sie meinte die Strahlen einzeln auf ihrer blassen Haut zu spüren. Sie war hungrig.
Die See hatte sich beruhigt, und bis zu dem Steg vor ihrem Haus würden sie keine zwanzig Minuten brauchen.
Holzapfel warf den Motor an.
K aninchen, sagte Heidi. Es sind bloß Kaninchen. Mit beiden Händen hielt sie den Käfig in Hüfthöhe.
Die Buschauffeurin blickte skeptisch.
– Nur in der letzten Reihe, sagte sie. Wir haben hier genug Tierhaarallergiker. Asthmaanfälle kann ich nicht gebrauchen.
Heidi schob sich schwankend an den fast leeren Reihen entlang, bis sie das Ende des Ganges erreichte. Die Sitzbank war grün-gelb gemustert, Polster waren aufgeschlitzt worden. Den Käfig stellte sie neben sich. Sie schnaufte. Eine Reisetasche plus zwei Kaninchen, das machte gut zwanzig Kilo, die sie bis zur Haltestelle geschleppt hatte.
Durch das dunkel getönte Glas sah sie dabei zu, wie sie auf kurvigen Straßen Västerhaninge verließen, die eng stehenden Wohnhäuser nach und nach den Industriebauten wichen, bis in der Höhe von Alvstatorp der Himmel fast unverstellt auf den Horizont traf.
Die Kaninchen fiepten pausenlos. Sie hatten einen Schlag weg, seit jenem Abend.
Sie und Malin waren vom Handballtraining in Kvarnängen gekommen, hatten zwischen all den Karussells und Buden das zuckende Blaulicht der Feuerwehr gesehen und sofort, ohne jeden Zweifel, begriffen, dass ein Unglück geschehen war und dass es mit ihrem Bruder zu tun hatte.
Als Mutter und Tochter atemlos ihre Wohnung erreichten, war ein Schwelbrand in der Diele gelöscht worden, hatten Krankenpfleger zwei stark blutende Polizisten
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