Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
in den oberen Stock.
In der Pantryküche fand sie in einem Honigglas Kleingeld und eine angebrochene Kaffeepackung, die ihr Aroma schon verloren hatte. Vor einer weißlackierten Küchenbank stand ein Paar hochhackiger Schuhe, die aussahen wie neu. Ihr dunkelgrünes Lackleder war an den Nähten sorgfältig schwarz abgesetzt, und sie wusste vom Hinsehen, dass sie ihr passen würden. Sie bückte sich, zog ihre Turnschuhe aus und stieg mit einem Fuß in einen der glänzenden Schuhe. Nur weil sie spürte, dass Myrbäck sie beobachtete, zog sie auch den anderen Fuß nach. Sie drehte sich um und sah ihm in die dunklen Augen. Jetzt war sie ein kleines Stück größer als er. Zu gehen traute sie sich nicht. Es waren die Schuhe einer unbekannten Frau. Sie streifte sie wieder ab.
Es war heimlich und gemein, was sie tat, aber es war spannend. Es gefiel ihr, in die Wohnungen Fremder einzudringen und zu sehen, wie sie lebten, wie sie sich einrichteten. Häuser wie dieses waren in den achtziger Jahren in den Schärengarten gebaut worden, von neureichen Auftraggebern, denen die traditionellen roten Häuschen zu piefig waren und deren Geschmack sich an der Architektur der sonnenhellen amerikanischen Pazifikküste orientierte. Auf kleinen Ostseeinseln standen sie falsch, fand sie.
Jan und Knut waren dabei, einen Flachbildfernseher vor das Haus zu schaffen. Über die geschwungene Holztreppe stieg sie in das obere Stockwerk.
Die Wärme des Wochenendes hatte sich im engen Korridor gehalten. Hinter den hellbraun gestrichenen Türen war es still. Das Schlafzimmer. Eine lichtlose Abstellkammer. Ein Kinderzimmer. Sie trat hinein und schloss die Tür hinter sich.
Ein eisernes Stockbett, hellblaue Tapeten, die an einigen Stellen geplatzt waren, an der Wand Indianermasken und Familienfotos, die sie sich nicht ansehen mochte. Vor dem Fenster stand ein riesiges Stoffschaf. Sie schob es beiseite und hakte die Fenster auf. Ein Trampelpfad führte an der Rückseite des Hauses entlang und verschwand in einer Hecke aus Holunderbüschen. Von fern war die Brandung zu hören.
Sie legte sich auf das untere Bett. Mit roten und grünen Stiften hatten Kinderhände auf den Lattenrost über ihrem Kopf geschrieben. Erika. Johan. Anna liebt Erik. Anna küsst Viktor.
Sassie und Lilja.
Auch sie und ihre Schwester hatten lange in einem Etagenbett geschlafen. Auch Lilja hatte die Holzbretter über ihrem Kopf als Anschlagtafel benutzt. Sassie knutscht Johan. Sassie Massie. Ända mot ända kann ingenting hända – Hintern an Hintern, so wird’s nix mit Kindern.
Immer wieder hatte sie in den letzten Wochen begonnen, unter einer bleischweren grauen Decke nach den Erinnerungen an ihren letzten Kindersommer in Christiania zu suchen. Sie stocherte nach Bildern, die verblasst waren, ihre Farbe verloren hatten, allen Sinn. Manche Schichten legte sie frei. Sie sah ihre Mutter vor sich: Die dunklen Augenhöhlen, verschmiert von Tränen und Mascara. Das Rot ihrer Lippen. Ihr Haar, streng nach hinten gebunden. Das Ende eines Mittsommerfestes, das sie im Grauen Reiter gefeiert hatten, und sie stand in der Toilette und hielt den Kopf ihrer Mutter, die sich würgend in ein Spülbecken erbrach. Schleim tropfte ihr vom Kinn, und eine rosafarbene Suppe füllte das Becken bis zum Rand. Ein Teich von Erdbeerbowle und hellen Klümpchen, die einmal Salzstangen gewesen waren. Sie hatte sich damals gewundert, was so alles in einen Bauch passte, dann aber war ihr eingefallen, dass sie selbst ja auch Platz darin gefunden hatte.
Von unten hörte sie die Stimmen Holzapfels und Myrbäcks. Sie stritten über irgendetwas.
Wochenlang war sie nachts aufgewacht, verschwitzt, die Augen tränennass, mit rasendem Herzen und doch gelähmt wie ein Tier, dem das Rückgrat gebrochen war und das hilflos in der Dunkelheit auf Erlösung wartete. In den Jahren, die folgten, hatte sie versucht, jene Gegenden des Gehirns zu verschließen, die ihre Erinnerungen bewahrten. Sie hatte die Bilder jenes Jahres ausgelöscht, verschwinden lassen, gekappt, eines nach dem anderen, bis nur noch farblose Abziehbilder übrig waren, die ihr nichts mehr anhaben konnten. Und sie davon befreiten, an das Früher zu denken, an ihre Eltern, an Lilja. An den Brief, in dem Tante Gunilla ihr mit sanft gerundeten, doch schnörkellosen Buchstaben geschrieben hatte: Deine Schwester wollte nicht mehr. Sie hat es nicht geschafft.
Durch das Fenster hörte sie ein Türenschlagen. Dann ein tiefes Lachen. Es klang fremd. Alarmiert
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