Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Stunde saßen sie und Federica auf diesem Holzfass vor einem Brettertisch, und noch immer sah sie keine Glühsterne vor Augen, keine roten Eidechsen. Oder ist dir etwa komisch?
Ein bisschen, antwortete Federica und verdrehte ihre Augen. Sie fing gleich an, davon zu erzählen, wie sie mit ihren Eltern nach Nørrebro ist, um gegen den Abriss des Abenteuerspielplatzes zu demonstrieren. Am Nachmittag hockten alle auf dem Sit-in und rauchten Haschisch, dann fuhren die Wasserwerfer vor. Die Augen brannten, sagte sie, schlimmer als vom Juckpulver.
Man darf Federica nicht alles glauben, dachte sie. Sie erzählt oft Geschichten, um sich aufzuspielen. Besonders vor Ove. Der ist neuerdings lieber mit Jerker und Moms unterwegs. Auf der Suche nach Schätzen. Mehr als Kronkorken und vergammelte Schuhe finden sie dabei kaum einmal.
Sie sah dabei zu, wie der Kopf ihres Vaters ins Wackeln geriet. Er schloss die Augen und riss sie wieder auf, in immer kürzeren Abständen. Sie stellte sich vor, wie es aussehen würde, wenn er jetzt gleich zur Seite wegsackte und von seinem Stuhl kippte. Was für ein Geräusch es machen würde, wenn er mit dem Kopf gegen die Tischkante knallte, wie eine Holzpuppe einknickte und dann mit der Stirn auf dem Steinboden aufschlüge.
Ihr Vater hatte eine Arbeit gefunden. Morgens um sechs stand er auf, zog sich fluchend an und ging ohne zu essen in eine Fabrik am Kløvermarksvej. Dort füllten sie Dünger ab, aber er arbeitete in der Abteilung, in der sie die Plastiksäcke herstellen. Wenn er am Nachmittag von der Arbeit kam, roch er trotzdem süßlich und nach Regenwurmerde. Wie ein Grab.
Um ihn nicht mehr sehen zu müssen, drehte sie sich auf ihrem Fass und zählte die Filmrollen, die schräg über ihrem Kopf an den Deckenbalken hingen, als wären sie Medaillen von den Olympiasiegern in Los Angeles. Man riss sie aus den Kameras von Touristen, die sich hier hineintrauten und Fotos machten. Sie zählte zweiundfünfzig Stück. Für Fremde war es nicht ungefährlich, hier hereinzukommen. Wenn man Pech hatte, wurde man sogar verprügelt, weil sie einen für einen Spitzel hielten.
Die Zeit gibt es überhaupt nicht, hörte sie eine Stimme sagen. Wir bilden uns bloß ein, dass es Tage gibt, Minuten und Sekunden.
Es war ein Junge, der dies sagte. Er stand vor dem Tresen und trug eine Jeans und ein braunes Stirnband im Haar und einen Strohkoffer auf dem Rücken. Niemand antwortete ihm.
Er drehte langsam den Kopf und sah ihr in die Augen. Was denkst du, Schwester?, fragte er.
Das kannte sie schon: dass einen hier alle mit Bruder und Schwester ansprachen. Es gefiel ihr genauso wenig wie die Gemeinschaftstoilette auf dem Loppen. Da saßen alle in einer Reihe und sahen sich gegenseitig bei ihren Geschäften zu, weil es keine Trennwände gab.
Ich bin nicht deine Schwester, sagte sie.
D as Mädchen sah von seinem Buch auf und blickte sie durch das Bleiglas der Kassenloge an.
– Zwei Stunden, bitte. Sassie vermied es, dem Mädchen in die Augen zu blicken. Ihre Eintrittskarte nahm sie wortlos entgegen und folgte den beiden Frauen in die Umkleidekabine.
Die hatten es nicht eilig. Sie steckten sich Klammern ins Haar und banden einzelne Strähnen hoch, legten ihre Blusen und Röcke und die Unterwäsche zusammen, sprachen über die morgendlichen Routinen im Kinderschulgarten.
Sassie räumte ihren Badebeutel aus, kramte nach einer Shampooflasche, stieg umständlich in ihren Badeanzug und behielt bei allem die Dunkelhaarige im Auge. Sie war es, die an der Kasse den Autoschlüssel in ihren Korb hatte fallen lassen.
Sie folgte den Frauen in die Duschkabine, ließ ein wenig Wasser über sich rinnen, achtete aber darauf, dass ihre Perücke trocken blieb. Sie warf sich ihr Badehandtuch über die Schulter und spazierte über das Gras der Liegefläche. Das Gras war kühl, strohige Halme pieksten ihre Fußsohlen. Neben einer Familie mit zwei brüllenden Kindern hockte sie sich auf ihr Handtuch und beobachtete die Frauen, wie sie Badekappen über die Köpfe stülpten, dann ohne Gequietsche ins kühle Wasser hüpften. Tapfer, tapfer, dachte sie, blöde Schnallen. Als sie zwischen anderen Schwimmenden außer Sicht gerieten, kehrte sie in die Kabine zurück.
Das Schlüsselbund wog schwer. An die dreißig Schlüssel waren es bestimmt. Schlüssel, hatte Myrbäck ihr versichert, wie sie überall auf der Welt für Spinde benutzt wurden. Es gab wenige Hersteller, früher oder später würde sie den passenden finden.
Manche der
Weitere Kostenlose Bücher