Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Schlüssel fanden in das Schloss, doch keiner von ihnen ließ es aufspringen. Die feuchte Wärme der Umkleidekabine machte ihr zu schaffen. Die Aufregung stach in ihrer Seite. Sie konzentrierte sich darauf, die Reihenfolge der Schlüssel einzuhalten. In einem der Schränke in ihrer Nähe klingelte ein Mobiltelefon. Sie hörte Kinderstimmen in der Dusche. Es war der Schlüssel Nummer sechzehn, der das Sperrfederschloss in ihren zittrigen Händen aufspringen ließ.
Der Badekorb am Boden des Schranks. Feuerzeug. Bürste. Deoroller. Der Autoschlüssel. Eine Armbanduhr mit breiter Gliederkette, vielleicht aus Gold? Sie lag schwer in der Hand. Sie hörte, dass sich hinter ihrem Rücken die Türe zu den Duschen öffnete. Sie ging in die Knie, warf sich auf den Bauch, reckte ihren Arm unter die Holzbank und tat, als suchte sie nach einem Schlüssel, einem Ring, einem Etwas, das unter die Holzbank gesprungen war. Ihr Atem beschlug die Fliesen.
– Brauchst du Hilfe? Die Dunkelhaarige stand über sie gebeugt. Aus ihrem Bikini tropfte Wasser auf Sassies Rücken. Für einen Augenblick war sie ihr so nah, dass sie den hellen Strich einer Narbe auf ihrem Bauch sehen konnte, die Narbe eines Kaiserschnitts.
Erst jetzt begriff die Frau, dass ihr Schrank offen stand. Dann, dass es Sassie war, die sein Inneres durchwühlt hatte.
– Was machst du?, fragte sie. Angeekelt klang es, nicht einmal überrascht.
Sassie kam hoch. Sie griff mit der freien Hand zur Spindtür und schlug sie der Frau mit aller Wucht ins Gesicht. Ohne das leiseste Geräusch sackte sie rücklings auf die Bank und schloss die Augen. Ihre Nase habe ich platt gemacht, dachte sie. Schweinchennase. Aus der plötzlich Blut auf die Haut des Bauches spritzte wie gerüttelte Limonade, auf die Narbe, den blauen Bikini.
Sassie rannte aus der Kabine und folgte einem Streifen azurblauer Wandkacheln mit Seesternmustern gen Ausgang. Ihre Kleidung, ihren Badebeutel hielt sie vor der Brust. Sie spürte die Wärme der Uhr in ihrer Faust. Jeden Augenblick rechnete sie damit, Schritte hinter sich zu hören, Rufe. Sie spannte die Muskeln und konzentrierte sich auf das rhythmische Klatschen ihrer Sandalen auf den Fliesen. Doch nicht einmal das Kassenmädchen sah von seinem Buch auf, als sie vorbeihastete.
Ein bleifarbener Schleier war am westlichen Himmel vor die Sonne gezogen. Die Gegenstände hatten ihre Farbe verloren. Sogar die beiden Männer, die vor ihr auf der Bank saßen, sahen blasswangig aus. Holzapfel vertrieb sich die Zeit mit dem Freirubbeln seiner Lose. Myrbäck stierte in die Luft. Keiner der beiden bemerkte, dass sich hinter ihnen eine dunkle Wolkenwand auftürmte. Noch, dass sie im Badeanzug auf sie zugelaufen kam.
– Alles frisch bei euch?, fragte sie, weil ihr Besseres nicht einfiel. Den Autoschlüssel schwenkte sie wie eine Trophäe.
– Nur Nieten, sagte Holzapfel enttäuscht.
Myrbäck nahm den Schlüssel entgegen und entschwand in Richtung des bordeauxroten Alfa Romeo.
Sie folgte Holzapfel zum Ford Fiesta. Sie warf sich auf den Rücksitz, zog Rock und Bluse über und bemerkte, dass ihr linker Arm ein Eigenleben führte. Sie drückte ihn gegen ihren Bauch. Jan brauchte nicht zu bemerken, dass sie vor Schreck zitterte. Vorhin, im Wettbüro, hatte er sie von schräg gegenüber des Tisches angeglotzt, viel länger, als es ihm gestattet war. Sie hatte zurückgestarrt, bis er wegsah, und noch länger, bis er ihr wieder in die Augen blickte, und Myrbäck hatte von alldem nichts mitbekommen, weil sein Bein sich unter dem Tisch verliebt an ihrem Knie rieb. Sie hatte sich schön für ihn in Positur gesetzt.
Ein Schwall süßlicher Benzindämpfe stieg ihr in die Nase. Sie schmeckte einen öligen Film auf ihrer Zunge und öffnete das Seitenfenster.
Vor dem Konsum-Großmarkt in Handen sammelten sie Myrbäck auf. Er hatte den Alfa Romeo für Forss auf dem Kundenparkplatz abgestellt.
Holzapfel fuhr sie durch die verblassende Landschaft. Es dämmerte, als sie den Tyresövägen verließen und den Weg in Richtung Süden einschlugen. Sie schlief kurz ein.
Als sie erwachte, fuhren sie an einer Kette kleiner Häuschen und erleuchteter Fenster vorbei. Neben ihr saß Myrbäck Sein Kopf lehnte gegen das Fenster. Im schwindenden Tageslicht konnte sie sehen, dass in der Achselhöhle seines Pullovers eine Naht geplatzt war. Die Ärmelbündchen waren angestoßen, Dutzende kleiner Ziehfäden verteilten sich über den ganzen Ärmel.
Sie war todmüde, aber es gelang ihr nicht,
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