Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Verwandtschaft hat davon gesprochen.
– Wovon? Holzapfel sah verunsichert aus.
– Von Jan, dem Wüterich. Der sich bei seiner Geburt in der Nabelschnur verhedderte. Als Neugeborener bist du blau gewesen und hast gleich geschrien. Wenn dich später niemand beachtete, hast du dich in eine schlimme Wut hineingesteigert. Du hast dir mit deinen Fäustchen an den Kopf geschlagen. Und an den Ohren gerissen.
– Das hast du dir schön zusammengereimt, sagte Holzapfel.
– Zu anderen Zeiten hätten sie dich in die Kinderpsychiatrie geschickt. Dort hättest du deine Aggressionen mit dem Malstift fokussieren müssen. Deine Ängste mit Handpuppen nachspielen.
Heidi kann fies sein, dachte Myrbäck. Bevor ihre Wut auch ihn traf, nahm er sich Schuhpaste und Putzlappen aus der Besenkammer und verdrückte sich. Im Windfang setzte er sich auf den Flickenteppich und wienerte mit soldatischer Pedanterie sechs Paar Schuhe, auch jenes Paar grüner Lacklederschuhe, das Sassie von Lilla Aspholmen mitgenommen hatte, und stellte sie in eine Reihe vor die Paneelwand. Zufrieden mit seinem Werk zog er sich eine Jeansjacke über und trat auf die Veranda.
Der weitläufige Garten war mit seinen alten Apfelbäumen, seinen Rosenbüschen auf eine zivilisierte Weise verwachsen. Der Winter hatte Spuren hinterlassen. Auf den Beeten lag das Herbstlaub, im Gras standen die leblosen, braunen Büschel vom Vorjahr, und seit Monaten hatte niemand die Wassertonnen geleert. In den letzten Tagen hatte die Sonne auf die Plastiktonnen geschienen. Das Wasser begann zu stinken.
Wenn man von außen auf das Haus blickt, dachte Myrbäck, dann kommt es einem für ein Sommerhaus zu groß vor, mit seinen zwei Stockwerken und dem aufgesetzten Erker, seiner ausladenden Veranda. Im Inneren aber erinnerte es ihn an ein Puppenheim. Die Räume waren klein und eng, passend für das Leben einer vielköpfigen Familie der Jahrhundertwende. Die alten Holztüren klapperten nachts in der Zugluft. Aber er würde sich nicht beklagen. Sein Zimmer besaß ein Fenster zum Garten, mit Blick auf dicht bewachsene Johannisbeersträucher und einen kleinen Teil der Ostsee.
Es war sechs Uhr, als Sassie aus dem Haus kam. Im Gehen strich sie sich die Haare hinter die Ohren. Sie stehen ein bisschen ab, dachte er.
Sie schlugen den Kiesweg zum Holzsteg ein, wo das Boot vertäut lag. Gurgelnd klatschte das Wasser gegen die schaukelnde Metallhülle. Ihr Pfad führte sie vorbei an Maulbeerbäumen und über baumlose Felsböden. Sie stiegen über einen morschen Zaun, erklommen eine Anhöhe, und plötzlich standen sie einem Mann gegenüber. Mit seiner schwarzen Blousonjacke und einer hellblauen Wollmütze über dem Schädel, die aussah wie ein Eierwärmer, stand er da mitten im Nichts und sah über die Baumkronen hinweg auf den Horizont. Als sie sich auf dem engen Weg aneinander vorbeizwängten, spannte Myrbäck unwillkürlich seine Muskeln und hob seinen Arm in eine Position, die ihm einen schnellen Hieb erlauben würde.
– Wartet der hier auf jemanden?, fragte er Sassie, als sie den Mann hinter sich gelassen hatten.
Sie sah sich um, brachte aber keinerlei Interesse für den Fremden auf.
Es passierte, dass Spaziergänger bis vor ihr Haus kamen. Meist Leute aus Stockholm, die weiter oben am Hang die Straße verließen, um ans Ufer zu gelangen, und zu spät merkten, dass ihr Weg vor einem Haus endete. Er sollte sich also keine Gedanken machen. Trotzdem. Der Mann stand auf herausfordernde Weise falsch in der Landschaft herum, fand Myrbäck.
– Vermisst du deine Frau?, fragte Sassie unvermittelt.
– Nein, ich vermisse Ed, antwortete er. Er hatte keine Lust, über seine Frau zu reden.
– Und du? Vermisst du jemanden?
– Wer sollte das sein?, fragte sie zurück. Und dann: Was ist mit dir und Holzapfel?
– Nicht viel. Er ist abweisend. Abwesend. Manchmal glaube ich, er leidet unter Absenzen. Wir sprechen kaum miteinander. Hier hat jeder sein Zimmer, wir können uns aus dem Weg gehen.
– Was ist mit eurer Kiste? Wo ist sie?
– Was weißt du von unserer Kiste? Er war erstaunt.
Sie erinnerte ihn an den Tag ihrer überstürzten Flucht von Heidis Balkon. Sie hatten zu dritt im Flur gestanden, von außen brach jemand die Tür auf, und Holzapfel hatte mit irrem Blick nach der Kiste gefragt.
– Du würdest gern wissen, wo ich sie versteckt habe, was?
– Für wie blöd hältst du mich? Aber ich will wissen, was in ihr steckt.
– Schaltkreise, Platinen. Die Zukunft. Er sah sie
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