Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
Blick von der kurvigen Straße abgewendet, um ihm in die Augen zu sehen. Während er Plattitüden von sich gab, musste sie daran denken, dass sie aus Liebe zu ihm alles geopfert hatte.
Als der Wagen ins Schleudern kam, riss er die Augen auf. Der Schwall sinnloser Worte verebbte.
»Guck auf die Fahrbahn«, hatte er gesagt. Sein schönes Gesicht spiegelte Besorgnis wider. Sie konnte es kaum glauben. Zum ersten Mal, seit sie zusammenlebten, hatte Leon Angst. Berauscht von diesem Machtgefühl trat sie aufs Gas. Ihr Körper wurde durch die Beschleunigung regelrecht in den Sitz gepresst.
»Fahr langsamer, Ia«, bat Leon. »Wir sind zu schnell!«
Sie hatte nicht geantwortet, sondern das Gaspedal noch heftiger durchgetreten. Der kleine Sportwagen hob beinahe ab. Sie hatte das Gefühl zu schweben. In diesem Augenblick war sie vollkommen frei.
Leon hatte noch versucht, das Lenkrad zu packen, aber dadurch war das Auto noch mehr ins Schlingern geraten. Immer wieder flehte er sie an, vom Gas zu gehen. Das Entsetzen in seiner Stimme machte sie so glücklich wie lange nichts. Nun flogen sie fast.
Als sie in einiger Entfernung den Baum sah, schien eine äußere Kraft von ihr Besitz zu ergreifen. Ruhig drehte sie das Lenkrad ein Stück nach rechts und hielt auf den Baum zu. Von ferne hörte sie Leons Stimme, aber das Rauschen in ihren Ohren übertönte alles andere. Dann war es plötzlich still. Friedlich. Sie würden sich nicht trennen, sondern für immer zusammenbleiben.
Erstaunt stellte sie irgendwann fest, dass sie noch lebte. Neben ihr saß Leon mit geschlossenen Augen. Sein Gesicht war voller Blut. Das Feuer wurde rasch größer. Die Flammen leckten bereits an ihren Sitzen. Ein scharfer Geruch stieg ihr in die Nase. Sie musste sich schnell entscheiden, ob sie zulassen sollte, dass die Flammen sie verschlangen, oder ob sie sich und ihn retten sollte. Sie betrachtete Leons schönes Gesicht. Das Feuer hatte bereits eine seiner Wangen erfasst. Fasziniert beobachtete sie, wie es sich in die Haut fraß. Dann fasste sie einen Entschluss. Von nun an gehörte er ihr. Und so war es gewesen, seit sie ihn aus dem brennenden Auto gezogen hatte.
Ia schloss die Augen und spürte die kühle Scheibe an der Stirn. Leon hatte jetzt etwas vor, woran sie nicht beteiligt sein wollte, aber sie sehnte den Moment herbei, in dem sie wieder vereint sein würden.
Anna sah sich in dem kahlen Raum um, der nun von einer nackten Glühbirne beleuchtet wurde. Es roch nach Erde und etwas anderem, was sich nicht ohne weiteres identifizieren ließ. Ebba und sie hatten vergeblich an der Tür gerüttelt. Sie war fest verschlossen.
An der einen Wand standen vier Kisten mit Eisenbeschlägen. Die Flagge darüber hatten sie als Erstes gesehen, als das Licht anging. Feuchtigkeit und Schimmel hatten sie dunkel werden lassen, aber die Swastika hob sich noch deutlich vom rot-weißen Hintergrund ab.
»Vielleicht ist in denen etwas, was du überziehen kannst.« Ebba sah sie an. »Du zitterst ja.«
»Ja. Ganz egal, was. Ich erfriere.« Anna schämte sich, dass sie unter dem Laken nackt war. Sie gehörte zu denen, die sich ungern in öffentlichen Umkleideräumen umzogen. Seit dem Unfall und den vielen Narben war es noch schlimmer geworden, und obwohl Schüchternheit momentan ihre geringste Sorge hätte sein müssen, quälte sie ihr Schamgefühl trotz Angst und Kälte.
»Die drei dort sind verschlossen, aber diese ist offen.« Ebba zeigte auf die Kiste an der Tür und klappte den Deckel hoch. Zuoberst lag eine dicke graue Wolldecke. »Hier!« Sie warf Anna die Decke zu, und die wickelte sich samt Laken darin ein. Trotz des ekelerregenden Geruchs der Decke war Anna froh über die Wärme und den Schutz.
»Hier sind auch Konserven.« Ebba nahm einige staubige Dosen aus der Kiste. »Schlimmstenfalls können wir damit eine Zeitlang überleben.«
Anna musterte sie. Ebbas fast fröhlicher Tonfall passte weder zur Situation noch zu ihrem vorherigen Zustand. Offenbar war das ihre Art, sich zu schützen.
»Wir haben kein Wasser«, stellte sie fest. Der Satz blieb im Raum stehen. Ohne Wasser würden sie es nicht lange aushalten, aber Ebba wühlte weiter in der Kiste, als hätte sie gar nicht zugehört.
»Guck mal!« Sie hielt ein Kleidungsstück hoch.
»Eine Naziuniform? Wo kommt denn dieses Zeug her?«
»Während des Krieges hat das Haus anscheinend einem Verrückten gehört. Der Krempel muss noch von ihm sein.«
»Das ist doch krank.« Anna zitterte immer noch. Die
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